Stiller
Square und Fifth Avenue, Rockefeller Center, Broadway, Central Park und Battery, das sind so die Punkte, die mein Staatsanwalt selber gesehen hat in seiner Neuyork-Woche vor etwa fünf Jahren.
»Kennen Sie die Rainbow Bar?« fragt er.
Ich nicke, lasse ihn schwärmen, und da ich Männer schätze, die schwärmen können, korrigiere ich ihn nicht; nämlich die Rainbow Bar, wo mein Staatsanwalt einen offenbar unvergeßlichen Abend verlebt hat, ist nicht die höchste Bar in Manhattan, das Empire State Building ist ja höher, aber ich unterbreche nicht. Für meinen Staatsanwalt, merke ich, war es ein Höhepunkt in seinem Leben; in der Rainbow Bar traf er seine Gattin nach jahrelanger Trennung. Dann frage ich meinerseits:
»Kennen Sie auch die Bowery?«
»Wo ist das?« fragt er.
»Third Avenue.«
»Nein.«
Die Bowery, ein ehemals niederländischer Name, ist ein Viertel, wo auch die Polizei nicht mehr hingeht, Gefilde der Verlorenen, dabei inmitten von Manhattan; man geht um die marmorne Ecke eines Gerichtspalastes, in der Tat, und nach hundert Schritten ist man im Gefilde der Verlorenen, der Besoffenen, der Gescheiterten, der Verkommenen jeder Art, derMenschen, die das Leben selbst gerichtet hat. Man braucht nicht einmal ein Gefängnis für sie; wer in der Bowery gelandet ist, kommt nie wieder heraus. Im Sommer liegen sie im Rinnstein und auf dem Pflaster; man muß sich dann bewegen wie ein Springerchen auf dem Schachbrett, um vorwärts zu kommen. Im Winter hocken sie drinnen um die eisernen Asylöfen, dösen, streiten, schnarchen, erzählen ihre immer gleiche Geschichte oder verprügeln einander, und es stinkt nach Fusel, nach Petrol, nach ungewaschenen Füßen. Einmal sah ich eine Gestalt, die ich nie vergessen werde. Es war drei Uhr in der Nacht, als ich von Blacky wie üblich nach Hause ging; es war eine Abkürzung für mich, und um diese Zeit war keiner mehr auf der Straße, dachte ich, zumal nicht bei dieser grimmigen Kälte. Oben dröhnte die veraltete Hochbahn vorbei mit ihren Fenstern voll warmen Lichtes; in der Straße wirbelten die schmutzigen Fetzen, Hunde stöberten umher. Als ich ihn kommen sah, versteckte ich mich hinter einem Eisenpfeiler der Hochbahn. Auf dem Kopf trug er eine schwarze Melone wie Diplomaten, Bräutigame und Gangster; sein Gesicht war blutig. Im übrigen trug er eine Krawatte, ein weißliches Hemd, eine schwarze Jacke, aber dann war es fertig; sein Unterleib war splitternackt. Seine dünnen und grau-violetten, greisenhaften Beinchen waren noch mit Sockenhaltern und Schuhen versehen. Offenbar war er besoffen. Er schimpfte, fiel, kroch auf dem vereisten Pflaster; ein Auto mit Scheinwerfern raste vorbei, Gott sei Dank ohne ihn anzufahren. Endlich hatte er seine Hose gefunden, versuchte an einer Laterne hochzukommen und in seine schwarze Hose zu steigen, rutschte, lag wieder der Länge nach auf dem vereisten Pflaster. Natürlich erwog ich, ob ich nicht helfen sollte, hatte aber Angst, in irgendeine Sache verwickelt zu werden, was ich mir nicht leisten konnte. Inzwischen war es dem Alten gelungen, wenigstens sein linkes Bein in die Hose zu versenken; ich wünschte ihm das Beste und wollte mich entfernen. Irgendwoher hörte ich Stimmen, ohne Männer zu sehen, Stimmen höhnischen Hasses, der wohl diesem Unglücklichen galt. Ich zog mich sofort wieder in den tarnenden Schatten meines Eisenpfeilers zurück; oben dröhnte die Hochbahn. Bei seinem Versuch, auch das zweite Beinchen in die Hose zu stecken, war er wieder gerutscht, abermals splitternackt blieb er liegen, röchelte. Seine schwarze Melone rollte mit dem Wind. Er wehrte sich nicht einmal, als ein Hund ihn umschnupperte. Ich schlotterte und beschloß, mich von Eisenpfeiler zu Eisenpfeiler zurückzuziehen. Auf der anderen Straßenseite gingen Leute vorbei, die auch nicht halfen. Man weißhalt, was dabei herauskommt! Zum Schluß muß der Samariter beweisen, daß er nicht der Mörder ist, mit Alibi und so. Das konnte ich der Blacky nicht antun! Einen Block weiter, und ich konnte in die Hochbahn steigen, in zwanzig Minuten zu Hause sein, wo sicherlich Blacky schon anläutete, um Gute Nacht zu sagen. Aus der Entfernung sah ich ihn bloß noch als dunkles Bündel auf dem Boden, ungefähr das einzige, was der grimmige Wind nicht weiterwirbelte. Unversehens stand ein Kerl neben mir, der die Hand auf meine Schulter legte; ein Stoppelbart, dazu Glatze und rötliche Fischaugen, im übrigen kein unsympathisches Gesicht; er bat um eine Zigarette.
Weitere Kostenlose Bücher