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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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grauen Tauben mit dem blau-grün-violetten Schillern um den Hals, hockte er und hielt Rat, was unter diesen Umständen zu tun wäre, oder versuchte es zumindest. Hinter ihm stand eine Barock-Fassade, aller Verzückung wert; Sibylle verstand davon noch etwas mehr als er. Jetzt hinderte ihn auch nichts mehr, seine Krawatte abzutakeln, seine Manschetten (vermutlich waren sie ohnehin schon schmutzig) unter den Rockärmeln zurückzukrempeln. Daß wenigstens seine Gattin ihn nicht sah, empfand er als ein Glück; der Rest an Menschheit, nun ja, sollte er gaffen! Droben in der Barock-Fassade, die oberen Voluten waren besonnt und ihre pralle Ockerhelle leuchtete von der mittäglichen Meerhimmelbläue, schlug es zwölf Uhr. In zwei Stunden führe sein Zug. Auch seine goldene Armbanduhr, richtig, hatte zu verschwinden, bevor er zu den Trödlern in den Hafengassen ging, dort wo die Ware an den blaterigen Mauern hängt, Hemden, Hosen, Socken, Hüte. Es ging jetzt (so sagt er) schon nicht mehr um die Lire, sondern um sein nacktes Selbstvertrauen, das er als ein immer lotterigeres Paket abermals unter den Arm nahm. Warum war er nicht sogleich zu diesen Trödlern gegangen! Er war zuversichtlicher als je an diesem Vormittag, geradezu erheitert von der Anekdote, die er da zuhanden geselliger Abende erlebte; er pfiff, oder besser gesagt: er hörte sich pfeifen, seinerseits durchaus bewußt, daß es ihm nicht geheuer war. Es war eine Hafengasse, ein Faustrecht-Quartier. Um nicht als Schwindler verhauen zu werden, hier wo es keine Gendarmerie mehr gab, entschnürte er sein Paket in einer Nebengasse, zum erstenmal, um sich doch zu versichern, ob der Stoff wirklich für einen Herrenanzug ausreichte. Er tat es, nein, an der Länge war nichts zu bemängeln. Rolf rollte also den verfluchten Stoff wieder zusammen, was nicht ohne Schwierigkeit war, wenn der Stoff nicht das Pflaster berühren und dann nach Urin stinken sollte; dann näherte er sich dem Trödler mit der einleitenden Frage, wie man hier zum Bahnhof käme, und mit Zigaretten, mit viel leutseliger Laune und Erwähnung eines Kleiderstoffes, gestern gekauft, umihn von einem italienischen Schneider verarbeiten zu lassen, aber wie es im Leben so gehen kann: heute eine Depesche, plötzlich Abreise, dann Flüche auf den Zoll, der keine Stoffe durchlassen würde, eine lange und dumme Geschichte, die er für schlau hielt, geradezu für orientalisch. Allein sein eigener Anzug mit einem unverkennbaren Rest von Bügelfalten, seine allzu tadellosen Schuhe, ganz zu schweigen von dem goldenen Siegelring, der natürlich genau vermerkt wurde, waren nicht dazu angetan, in dieser Gegend ein kameradschaftliches Vertrauen zu erwecken. Zwar gestattete man ihm das Auspacken des feilen Stoffes unter offenem Himmel. Ein paar Weiber mit Säuglingen am Busen und mit Blicken, die Rolf nicht für gerecht hielt, verfolgten den Handel mit mißtrauischer Neugierde. Der Trödler, ein Alter mit braunen Zähnen und Knoblauch-Atem, betastete den Stoff sehr ausgiebig, was Rolf eine zage Hoffnung gab, so zag, daß er seinerseits keinen Preis zu nennen wagte, sondern fragte, wieviel der Trödler denn dafür gäbe. »Niente.« Mit tausend Lire wäre Rolf zufrieden gewesen, tausend Lire für sein Selbstvertrauen; um wenigstens so viel zu erreichen, nannte er zweitausend als letzten Preis. »No.« Aber tausend! »No.« Also wieviel denn? »Niente.« Die Weiber mit den Säuglingen grinsten im Weggehen. Rolf rollte wieder zusammen. Hingegen für den Siegelring, meinte der Trödler, gäbe er dreißigtausend. Rolf lachte. Für die sehr tadellosen Schuhe bot ihm der Trödler, ohne sie betasten zu müssen, siebentausend Lire, als könnte er (mein Staatsanwalt) barfuß nach Hause gehen. Nichts blieb ihm in diesem Genua erspart! Schließlich gab es nur noch eins: das Paket zu verschenken. So rasch wie möglich! Zum Beispiel an einen jüngeren Mann, der an einer Plakatsäule stand, Mundharmonika spielte, offenbar ein Arbeitsloser mit leerer Mütze auf dem Pflaster. Im letzten Augenblick, als Rolf das schwarze Holzbein gewahrte, vermochte er es doch nicht. Also weiter! Ein junger Lümmel in Fetzen, der um Zigaretten bettelte, und ein alter Großvater mit Enkelkind in einem drahtigen Kinderwagen schienen ihm auch nicht die richtigen zu sein. Einen Stoff zu verschenken, den man selber unter keinen Umständen tragen wollte, war gar nicht so leicht, und Rolf ging kreuz und quer in einem Quartier, dessen Armut alles andere als malerisch

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