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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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wer es nun war; einfach umgebucht. Von Göschenen an regnete es schräg über die Fensterscheiben. Am besten, dachte Rolf, würde es sein, sich vor Sibylle überhaupt nichts anmerken zu lassen; seine Haltung sollte sie vernichten. Rolf brauchte sich nur an ihr unverschämtes Gesicht zu erinnern, und die Haltung kam ihm von selbst, nun ja, ihrem Gesicht entsprechend, das nicht bloß glücklich war und fremd vor Glück, nein, es war höhnisch, war frech, war übermütig, war triumphierend über ihn, und es hätte nur noch gefehlt, daß er ihr Vorwürfe gemacht hätte, Rolf mit seinen Theorien; sie hätte hellauf gelacht, und ihr Hohn wäre zum Vorschein gekommen. Haltung schien ihm jetzt das einzige zu sein, Haltung ohne Entrüstung, ohne Anklage und ohne Klage, aber Haltung, bis dieses Erzweib auf die Knie geht. Das war beschlossen und der heimatliche See bereits in Sicht. Rolf hatte sogar, die Zukunft mit seinem Erzweib bedenkend, im Waggon-Restaurant zu pfeifen angefangen, stoppte natürlich, sobald er sich selber hörte, und drängte den Kellner zur Zahlerei, als wäre man dadurch rascher in Zürich. Was aber, wenn es überhaupt nicht mehr zu einer Zukunft kam, wenn Sibylle gar nichtmehr bei Rolf wohnte, sondern bei dem andern? das heißt: Wenn Rolf allein in der Wohnung blieb, allein mit seiner Haltung? So saß er bei Einfahrt des Zuges, die Hand am Glas und immer noch in Angst gewärtig, jemand könnte an seinem Ärmel zupfen und ihm abermals das lotterige Paket mit dem fleischfarbenen Stoff überreichen wollen –
     
     
    Sibylle (die Frau meines Staatsanwaltes) hat gestern kurz nach Mitternacht ein beinahe siebenpfündiges Mädchen geboren. Er ist nicht zu sprechen vor Glück. Ich habe ihn ersucht, Blumen zu schicken, die ich später einmal bezahlen werde. Wahrscheinlich vergißt er es.
     
     
    Ich protokolliere dennoch weiter:
    Als Rolf damals von Genua kam und im Hauptbahnhof Zürich ausstieg, mantellos, so daß er wohl auffiel, also kaum zu verpassen war, falls Sibylle ihn an der Bahn erwartete, sagte er sich natürlich, daß Sibylle ihn unmöglich an der Bahn erwarten konnte; sie wußte ja nichts von seiner Ankunft, und daß sie aufs Geratewohl alle internationalen Züge abwartete, das bildete Rolf sich nicht ein. Nur vorsichtshalber, weil es einfach zu blöd gewesen wäre, einander zu verpassen, blickte er sich unter den Wartenden um. In Zürich regnete es. Unter einem Vordach mußte er in seinem Portemonnaie nachsehen, ob er es sich noch leisten konnte, wie üblich einem Taxi zu winken. Und dann, als dieses Taxi vor ihrer Wohnung stoppte, war es doch schlimmer als erwartet. Es war unerträglich. Schon die Ungewißheit, wessen Wohnung es nun wäre, seine oder ihre, ließ ihn zögern mit dem Aussteigen. Er blickte, indem er seinen Rockkragen aufstülpte, um dann durch den Regen rennen zu können, hinauf zu ihrer Wohnung, und alle Demütigungen auf seiner Reise waren nichts, verglichen mit diesem Augenblick, da er die Wohnung ohne Licht sah. Es war spät, doch lange noch nicht Mitternacht. Vielleicht schlief sie schon. Jedenfalls stieg Rolf nicht aus; der Taxi-Chauffeur mochte noch so drängen mit seinen Fragen, ob man nicht richtig wäre, ob die Fahrt weiterginge. Rolf fühlte sich auch zu unrasiert, um vor eine Gattin treten zu können, die jetzt einen andern liebt. Hatte er diese Tatsache, daß Sibylle einen andern liebt, denn vergessen? Jetzt, nach einem Wust von Gefühlen aller Art, die ihn bei aller Quälerei doch zerstreut hatten, jetzt hatte es wieder die öde Tatsächlichkeit eines Grabes,und Rolf fühlte sich nicht imstande, von ihrem italienischen Dienstmädchen zu hören, die Signora wäre für einige Tage verreist. Denn möglich war jetzt alles. Vielleicht läge in der Wohnung oben ein kleines Brieflein: Komme voraussichtlich Montag, herzliche Grüße Sibylle, bitte vergiß nicht den Mietzins zu zahlen. Oder vielleicht nur: Bitte vergiß nicht den Mietzins zu zahlen, Grüße Sibylle. Rolf fuhr im selben Taxi wieder in die Stadt zurück, wagte an diesem Abend nicht einmal einen Anruf. In einem Hotel der eigenen Stadt zu schlafen bedeutet stets eine gewisse Sensation, und Rolf genoß sie durch allen Trübsinn hindurch; noch war es Sensation, Ungewißheit, Aufregung – und er träumte wild. Am anderen Morgen, es war Sonntag, regnete es nicht mehr, und Rolf pilgerte zuerst einmal auf die Baustelle, rasiert, aber nach wie vor mantellos. Die Baustelle befand sich auf einer Höhe außerhalb der

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