Stiller
war. Wie zerlumpt sie leben, die Mehrzahl aller Leute, es ist doch jedesmal wieder ein Schock. Rolf blieb stehen; er spürte die Spießigkeit seines Bedürfnisses, gerecht sein zu wollen, den Menschen zu finden, der sein Geschenk am meisten verdiente, und nahm sich vor, einfach in die nächste Gasse zu schwenken: Der nächsteMensch, der ihm entgegen kam, hatte den Stoff für einen Herrenanzug, und basta! Der nächste Mensch war eine junge Frau in schlurfenden Pantoffeln. Also weiter! Der nächste war ein Gendarm, der pfiff, und dann war die Gasse zu Ende. Auf einem kleinen Platz mit Baum spielten sie Fußball; Rolf störte nur, verursachte offenbar ein Eigentor, indem er dem Torhüter in der Sicht gestanden hatte, und somit einen erbitterten Krach zwischen den halbwüchsigen Mannschaften. Also weiter! Er war wieder zum Umsinken müde; in vierzig Minuten fuhr sein Zug. Aber wohin mit seinem Geschenk? Aus einer finsteren Pinte voll Lärm wankte ein Besoffener, zu wütend, zu gefährlich, um ihn zu beschenken. Selbstverständlich konnte Rolf auch sein Paket einfach auf die Gasse werfen: Kapitulation. Später umkreiste er noch eine Weile lang einen blinden Bettler mit ausgestreckter Hand. Auch das, schien ihm, ging nicht. Schließlich und endlich konnte man das Hotel auch per Post bezahlen, später einmal; sein Mantel war ja auch noch im Hotel. Und überhaupt, versteht sich, ging es ja gar nicht darum, ob er sein Hotel zahlen konnte oder nicht. Es ging darum, wie er mit diesem verschnürten Paket jemals fertig werden sollte. Warum warf er es nicht wirklich weg? Rolf versuchte es. Nichts leichter, dachte er, als ein Paket zu verlieren; trotzdem klopfte es ihm in den Schläfen, als er endlich, von seiner Vernunft genötigt, an die Vollstreckung ging. In dem Gedränge von einem roten Verkehrslicht also ließ er es fallen, quetschte sich mit dem allgemeinen Gedränge über die Straße und wähnte sich schon gerettet; denn eben pfiff der Gendarm, der Verkehr wechselte, und die Straße hinter ihm war für eine Weile gesperrt. Endlich wieder freie Hände zu haben, es war ein Gefühl der Erleichterung, der neuen Lebensfreude, als wäre auch mit Sibylle nichts geschehen. Rolf steckte sich eine Zigarette an, ohne zurückzublicken, was wohl mit dem Angsttraum-Paket geschehen möchte, und es war auch nicht nötig, denn eine junge, in ärmlicher Kleidung sehr schöne Frau zupfte ihn eben am Ärmel, um das Paket, das sie aufgenommen hatte, dem zerstreuten Herrn zurückzugeben. Rolf wagte nicht zu leugnen, daß es zu ihm gehörte, dieses schofle Paket mit seinem verschmutzten Papier und mit der billigen Schnur, die den fleischfarbenen Stoff bald nicht mehr zusammenzuhalten vermochte. War er denn dazu verdammt, diesen fleischfarbenen Stoff durch sein ganzes Erdenleben zu tragen? Noch zehn Minuten vor Abfahrt seines Zuges stand er ratlos wie selten, das Paket unter dem Arm; noch fünf Minuten vor der Abfahrt seines Zuges. Die Kapitulation (so nennt er es) hatte er bis zur letzten Minuteverschoben; die Wagentüren waren schon geschlossen, als Rolf auf das Trittbrett stieg, und der Zug fing gerade zu fahren an. Als wären die leeren Sitzplätze nicht auch für ihn, nicht für Zechpreller und verlassene Ehemänner, stand Rolf im Korridor draußen bis Mailand. Was Sibylle wohl zu ihm sagen würde? Natürlich überschätzte er ihr Bedürfnis, sich mit ihm zu befassen, noch immer über die Maßen. Nach Mailand war er auch im Korridor nicht mehr allein; ein Schweizer redete ihn an, zutraulich wie die meisten Landsleute bei einer Begegnung im Ausland, und zum Glück kam bald die Grenze. Nach Chiasso saß er im Waggon-Restaurant, Blick immerfort zum Fenster hinaus, damit allfällige Bekannte, die durch den Zug gingen, ihn nicht erkennen könnten. Wie auffallend er sein mußte, dieser Mann mit dem steten Blick zum Fenster hinaus, gleichviel ob Tunnel oder nicht, wurde ihm keineswegs bewußt; mit der blühenden Phantasie des Selbstmitleids sah Rolf mehr als je auf einer Reise, Gefilde der Vergangenheit, vor allem Vergangenheit, wobei ihm kein Ereignis ohne Sibylle, kein Glück ohne Sibylle, keine sinnvolle Stunde ohne Sibylle einfiel. Alles andere war ja Spreu, nicht eines Gedankens wert. Etwas plötzlich war Sibylle der einzige Sinn und Inhalt seines Lebens geworden, und dieser Sinn war also nun übergegangen an einen andern Herrn, umgebucht auf einen Maskenball-Pierrot oder einen Genueser mit rabenschwarzem Haar oder einen jungen Architekten oder
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