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Stille(r)s Schicksal

Stille(r)s Schicksal

Titel: Stille(r)s Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Kunze
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der Mutter über das zu reden, was ihn wirklich bewegte. Immer hatten sie befürchten müssen, dass sie die Kindergeheimnisse, wie so oft, an den Vater ausposaunte. Je nach dem Inhalt ihrer „Beichte“ waren sie dann entweder ausgelacht oder bestraft worden.
    Doch heute lagen die Dinge anders. Sven war es in diesem Moment ganz egal, was sie von ihm hielten.
    Er hatte niemanden sonst auf der Welt, mit dem er reden konnte.
    So begann er zunächst leise und stockend, dann immer flüssiger zu sprechen. Je mehr er herausließ von seinen Sorgen, um so besser fühlte er sich. Erleichtert registrierte er, dass ihn seine Eltern weder mit Ratschlägen noch mit Kommentaren unterbrachen. Manchmal nickten sie oder murmelten etwas. Sven fühlte sich von ihnen verstanden, nahm nun sogar den Kaffeeduft wahr. Alle Fremdheit schrumpfte in sich zusammen und wich nach und nach einer gewissen Vertrautheit, was er selbst voller Erstaunen zur Kenntnis nahm.
    Die quadratische helle Küche mit den blau-weiß-karierten Gardinen und den alten Schleiflackmöbeln erinnerte ihn nun auch an die schöneren Seiten in seiner Kindheit und Jugend, die es durchaus auch gegeben hatte, wie er sich beschämt eingestand. Ihm fielen die guten Düfte ein, die meistens über dem Herd schwebten, die unbeschwerten Stunden beim Karten spielen mit Mutter und Schwester.
    Wie oft hatte Mutter ihm seine Sachen nachgeräumt, seine fettigen Fingerabdrücke von den Schränken gewischt, immer mit einem halblauten, aber nie sonderlich ernst gemeinten Vorwurf auf den Lippen.
    Jetzt war die Farbe der Schränke an einigen Stellen recht dünn geworden. Überall schimmerte gelblich das rohe Holz hindurch. Aber Schmutzflecken waren nirgends zu sehen. Auf dem Fußboden tummelten sich auch keine Krümel und Zwiebelschalen wie bei ihm zu Hause in Wiesenberg.
    Und was das Wichtigste war: Er hatte den Eindruck, dass ihm seine Eltern noch immer zuhörten. Selbst sein Vater.
    Margot zerknüllte vor Anspannung ihr altmodisches Spitzentaschentuch.
    Helmut klopfte gedankenverloren mit dem Teelöffel auf den Rand der Untertasse. Die Musik, die aus dem alten Radio kam, es stand noch immer oben auf dem Küchenschrank, war leiser als Svens Stimme. Es hatte eigentlich noch nie jemand so richtig auf die Musik oder die Nachrichten geachtet, aber sie bildeten seit Jahren eine stete Geräuschkulisse.
    Sven fragte sich, warum ihm die Vertrautheit seines Zuhauses erst jetzt so richtig bewusst wurde. War doch etwas dran an Großvaters Worten, wenn er behauptete, dass der Mensch erst dann etwas richtig schätzen lerne, wenn er es bereits verloren habe?
    Selbst der letzte Schluck Kaffee, der ihm lauwarm die Kehle hinunter rann, schmeckte ihm heute.
    Wenige Minuten später sprang Sven die Treppe hinunter, nahm oft zwei, drei oder gar vier Stufen auf einmal. Endlich wusste er, was zu tun war. Alles schien jetzt einfacher und klarer zu sein als noch vor Stunden.
    Zunächst würde er also bei seiner Firma vorbei fahren, wie es ihm seine Eltern geraten hatten.
     
    Ohne Umschweife erklärte Sven seinem Meister den Grund für sein Zuspätkommen, sparte auch seine neue Situation nicht aus. Mit fester Stimme bat er um zwei weitere Tage Urlaub.
    "Man kann doch unter gewissen Umständen auch unbezahlten Urlaub bekommen?" vergewisserte sich Sven, andere hatten diese Möglichkeit schließlich auch schon genutzt.
    "Weißt du, bei dir ist aber auch in letzter Zeit dauernd etwas los!"
    Paul Heidrich hatte bei seinen Worten die Stirn in Falten gelegt und seine dicke Lesebrille bedächtig bis zum Haaransatz geschoben. So sah er aus wie ein Urlauber, der die Sonnenbrille hochgeschoben hatte, um seine Augen vor dem Gegenüber nicht zu verbergen. Forschend schaute der alte Mann dem jungen ins Gesicht.
    "Aber, naja, wenn nun mal deine Madam ein Kind gekriegt hat und nun auch noch operiert werden muss", lenkte er schließlich knurrend ein, „ich werde versuchen, beim großen Chef ein Wort für dich einzulegen." Dabei kramte er auch schon beflissen im obersten Schubkasten des Schreibtisches herum. Als er endlich das gesuchte Formular gefunden hatte, schob er das Blatt in Svens Richtung.
    "Da, das da musst du aber auch noch ausfüllen und unterschreiben! Sonst ist da gar nix drin mit Urlaub und so, das weißt du ja."
    "Ja ja, werde ich schon machen!"
    Ohne weiteren Kommentar nahm er sich einen Stift aus der Plastikschale und begann unbeholfen, die wenigen Rubriken auszufüllen. Heidrich war schon wieder zur Tagesordnung

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