Stille(r)s Schicksal
Dorf, war zu der Beisetzung erschienen. Junge und Alte, bekannte und fremde Leute hatten der Familie ihr Mitgefühl bekundet. Sven und seine Eltern standen mit regungslosen Gesichtern am Grab. Sein Vater hatte den Arm um Mutters Schultern gelegt. Eine Geste, die sie jahrelang vermisst hatte. Die Großeltern, die Neumaiers, waren gar nicht gekommen. Sie hatten eine Karte geschickt, in der etwas Geld steckte. Sie seien zu alt und zu krank, um selbst zu kommen. Bla-bla.
Sven war das alles egal, er vermisste niemanden. Er brauchte niemanden. Glaubte er. Immer wieder verfluchte er sein Schicksal und fragte sich verzweifelt: Wieso musste Laura sterben - und nicht ich? Erst Anne Stiller, dann Laura Stiller und warum ich nicht? Sven Stiller? Ist Stillers Schicksalk so ungerecht?
So viele Kränze und Blumen hatte es auf dem Wiesenberger Friedhof kaum jemals zuvor gegeben. Nicht einmal im vorigen Sommer, als Anne von ihren Leiden erlöst worden war. Sven schaute auf die vielen Blumen, die lebenden und die aus Papier, doch eigentlich sah er sie gar nicht.
Er fühlte aber die vielen Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren: neugierig, vorwurfsvoll, hasserfüllt, verständnislos.
Trotzdem lud er sie nach der Beisetzung in den Dorfkrug ein, weil sein Vater ihm zugeraunt hatte, das sich das so gehöre.
Dass die meisten seine Einladung ausschlugen, kam für Sven nicht unerwartet. Wer will sich schon mit einem Mörder an einen Tisch setzen. Er hatte schon verstanden.
Ach Anne, dachte er wieder voller Verzweiflung und Scham, was ist nur aus mir geworden? Doch sein Gesicht blieb völlig unbewegt - genauso wie später bei den polizeilichen und gerichtsmedizinischen Untersuchungen sowie den nachfolgenden Gerichtsverhandlungen. Die Beweisaufnahme war so umfangreich, dass für die Hauptverhandlung mehrere Termine anberaumt worden waren.
Selbst bei der Urteilsverkündung verzog er keine Miene. Niemand konnte auch nur die kleinste Gefühlsregung in seinem Gesicht erkennen.
Das hieß ja nicht, dass er keine Gefühle hatte. Er wusste längst, dass ihn die Verzweiflung, die Scham und die Reue niemals loslassen würden, wahrscheinlich bis an sein Lebensende nicht.
Er war zwar gerade erst Anfang dreißig, aber die unfassbare Schuld, mit der er nicht umgehen konnte, hatte aus ihm innerhalb von ein paar Monaten einen alten Mann werden lassen, der sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich auch erlöst zu werden.
Das Urteil war rechtskräftig, er würde seine Haftstrafe in wenigen Tagen antreten müssen.
Vielleicht aber war ja das Schicksal gnädig und der Tod schneller?
Vor dem Ende hatte er keine Angst. Im Gegenteil.
Was konnte denn schlimmer sein als ein Leben mit dieser Schuld? Ein Leben ohne Anne, ohne Laura - und ohne Liebe?
Nein, das wollte er nicht.
***
„ Guck mal, Margot", sagte Helmut Stiller zu seiner Frau. Er raschelte absichtlich etwas lauter als sonst mit der Zeitung, aber seine Frau reagierte nicht. Sie saß nur einfach da, kerzengerade, die Haare streng nach hinten gekämmt, Lockenwickler hatte sie schon lange nicht mehr angerührt.
Irgend etwas Unverständliches schien sie vor sich hin zu murmeln, aber ihr Blick blieb leer.
So ging das nun schon seit Wochen.
Helmut rückte wieder ein Stückchen von ihr weg, las nun ganz für sich allein den Gerichtsbericht, den er ihr eigentlich hatte vorlesen wollen.
Seine Hände zitterten, sein Gesicht war eingefallen. Je weiter er las, um so heftiger bewegte ihn ein Gefühl, das ihm schon bei den Gerichtsverhandlungen und bei der nachfolgenden Urteilsverkündung zu schaffen gemacht hatte. Was war das, was ihn immer mal wieder quälte?
Schuld?
Mitschuld?
Diese Fragen streiften ihn jedoch nur ganz kurz.
Jeder ist schließlich für sich und sein Leben selbst verantwortlich! Das hatte er von seinem Vater, und der wieder von seinem, gelernt. Das musste doch schließlich auch sein Sohn begreifen.
Helmut und Margot Stiller saßen, scheinbar einträchtig, in ihrer Küche in der Kastanienallee. Obwohl sie aus dem Fenster sahen, bemerkten sie nicht, wie draußen schon die ersten Kastanienblüten zur Erde segelten.
Helmut hatte den Gerichtsbericht zu Ende gelesen.
Jedes Wort hatte ihn Mühe gekostet, er musste manchmal regelrecht buchstabieren, so sehr schmerzte es ihn, dass sein Sohn sein eigenes Kind hatte verhungern lassen. Und verdursten. Was? Blaue Flecke soll Laura auch ganz viele gehabt haben?
Bestürzt ließ er die Zeitung sinken. Dabei kannte er doch diese
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