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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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nennen, ihr Gesicht war zu lang, zu adlerhaft, ihre Nasenflügel jedoch waren anmutig geformt, ihre Augen beinahe schwarz. Sie besaß eine würdevolle Ausstrahlung, die deutlicher wurde, je länger man sich in ihrer Gesellschaft befand. Ihre Stimme war leise und sehr melodisch. Unter anderen Umständen wäre sie reizvoll erschienen. Jetzt hatten Entsetzen und Kummer Sylvestra zu sehr aufgewühlt, als daß sie mehr als abgehackte Halbsätze hätte über die Lippen bringen können.
    »Wie…«, setzte sie an. »Wo? Wo, sagten Sie, ist es passiert?«
    »In einer der Seitenstraßen eines Viertels namens St. Giles«, antwortete Evan sachte, indem er die Wahrheit ein wenig abmilderte. Er wünschte, es hätte eine Möglichkeit gegeben, ihr die ganzen Umstände des Geschehens vorzuenthalten.
    »St. Giles?« Der Name schien ihr kaum etwas zu sagen. Evan betrachtete ihr Gesicht, die glatte Haut, die hohen Wangenknochen und die gewölbte Stirn. Er glaubte, eine leise Anspannung wahrzunehmen, aber möglicherweise war es nicht mehr als eine Veränderung der Lichtverhältnisse, als sie sich zu ihm umwandte.
    »Es ist einige hundert Meter von der Regent Street entfernt, Richtung Aldgate.«
    »Aldgate?« wiederholte sie stirnrunzelnd.
    »Was hat er denn gesagt, wo er hingehen wollte, Mrs. Duff?« fragte er.
    »Er hat gar nichts gesagt.«
    »Vielleicht hätten Sie die Freundlichkeit, mir alles zu erzählen, was Ihnen vom gestrigen Tag im Gedächtnis geblieben ist.«
    Sie schüttelte ganz langsam den Kopf. »Nein… nein, das kann warten. Zuerst muß ich zu meinem Sohn. Ich muß bei ihm sein. Sie sagten, er sei sehr schwer verletzt?«
    »Ich fürchte, ja. Aber er ist in den besten nur denkbaren Händen.« Evan beugte sich ein wenig zu ihr vor. »Im Augenblick können Sie nichts für ihn tun«, sagte er eindringlich.
    »Es ist das Beste für ihn, wenn er sich ausruht. Die meiste Zeit ist er nicht voll bei Bewußtsein. Zweifellos wird der Arzt ihm Kräuter und Beruhigungsmittel geben, um den Schmerz zu lindern und ihm zu helfen, wieder gesund zu werden.«
    »Versuchen Sie, meine Gefühle zu schonen, Sergeant? Ich versichere Ihnen, das ist nicht nötig. Ich muß da sein, wo ich am dringendsten gebraucht werde, das ist das einzige, was mir auch nur ein wenig Trost geben kann.« Sylvestra sah ihn sehr direkt an. Sie hatte erstaunliche Augen; ihre dunkle Farbe verbarg beinahe jegliche Gefühle und machte sie zu einer merkwürdig undurchschaubaren Frau. Evan stellte sich vor, daß die großen spanischen Aristokraten eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr gehabt haben mußten: stolze, verschwiegene Menschen, die ihre eigene Verletzlichkeit verbargen.
    »Nein, Mrs. Duff«, widersprach er ihr. »Ich möchte versuchen, soviel als möglich von Ihnen über die gestrigen Ereignisse zu erfahren, solange sie Ihnen noch frisch im Gedächtnis sind, bevor Sie sich zur Gänze Ihrem Sohn widmen. Im Augenblick ist es Dr. Rileys Hilfe, die er braucht. Ich brauche Ihre Hilfe.«
    »Sie sind sehr offen, Sergeant.«
    Evan wußte nicht, ob dies eine Kritik war oder lediglich eine Feststellung. Ihre Stimme war ohne jeden Ausdruck. Die Realität dessen, was er ihr mitgeteilt hatte, hatte sie in einen so tiefen Schock gestürzt, daß sie noch nicht wieder klar denken konnte. Sie saß ganz aufrecht da, den Rücken durchgedrückt, die Schultern steif, die Hände völlig reglos auf dem Schoß. Wenn er ihre Hände berührte, so ging es ihm durch den Kopf, würde er wahrscheinlich feststellen, daß sie sich völlig verkrampft hatten und kaum mehr voneinander lösen ließen.
    »Es tut mir leid. Es scheint nicht der rechte Zeitpunkt für Höflichkeiten zu sein. Dazu ist die Sache viel zu wichtig. Haben Ihr Mann und Ihr Sohn das Haus gemeinsam verlassen?«
    »Nein. Nein, Rhys ging als erster. Ich habe ihn nicht weggehen sehen.«
    »Und Ihr Mann?«
    »Ja, den habe ich gesehen, als er das Haus verließ. Natürlich.«
    »Hat er gesagt, wo er hinwollte?«
    »Nein. Nein, er ging ziemlich häufig abends aus. In seinen Club. Das ist durchaus üblich unter Gentlemen. Das Geschäft hängt, ebenso wie das Vergnügen, von gesellschaftlichen Kontakten ab. Er hat nichts gesagt… nichts Besonderes.«
    Even war sich nicht sicher, warum, aber er glaubte ihr nicht ganz. Wußte sie womöglicherweise, daß ihr Mann gewisse zweifelhafte Orte aufsuchte, vielleicht sogar, daß er zu Prostituierten ging? Solches Verhalten wurde von vielen Menschen stillschweigend akzeptiert, obwohl sie zutiefst

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