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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Augenblick will, was getan werden muß.« Sie erhob sich, taumelte kurz und griff nach seinem Arm, den er ihr unverzüglich anbot. »Zuerst muß ich ins St. Thomas Hospital fahren und nach Rhys sehen.«
    »Halten Sie das für klug?« gab der Arzt zu bedenken. »Sie befinden sich in einem Zustand äußersten Schocks, meine Liebe. Erlauben Sie mir, an Ihrer Stelle hinzufahren. Ich kann zumindest dafür sorgen, daß ihm die allerbeste ärztliche Hilfe und Fürsorge zuteil wird. Ich werde dafür sorgen, daß er nach Hause kommt, sobald dies aus medizinischer Hinsicht ratsam ist. In der Zwischenzeit werde ich mich selbst um ihn kümmern, das verspreche ich Ihnen.« Sie zögerte, hin und hergerissen zwischen Liebe und Vernunft.
    »Lassen Sie mich ihn zumindest besuchen!« bat sie. »Nehmen Sie mich mit. Ich verspreche, ich werde Ihnen nicht zur Last fallen. Ich bin ganz gefaßt!«
    Er zögerte nur eine Sekunde lang. »Natürlich. Trinken Sie einen Schluck Branntwein, nur damit Sie sich etwas stärken, dann werde ich Sie begleiten.« Er warf einen Blick auf Evan.
    »Ich bin mir sicher, daß Sie hier fertig sind, Sergeant. Alles, was Sie sonst noch wissen müssen, kann auf einen günstigeren Zeitpunkt verschoben werden.«
    Das war eine Entlassung, und Evan nahm sie mit einer Art Erleichterung an. Im Augenblick gab es hier tatsächlich kaum noch etwas für ihn zu erfahren. Vielleicht würde er später mit den Kammerdienern und anderen Bediensteten sprechen. Der Kutscher wußte möglicherweise, wohin sein Herr für gewöhnlich gefahren war. In der Zwischenzeit gab es einige Leute in St. Giles, Spitzel, Männer und Frauen, auf die man Druck ausüben konnte, denen man wohlerwogene Fragen stellen und von denen man vielleicht etwas erfahren konnte.

2
    Man behielt Rhys Duff noch für einige Tage im Krankenhaus. Am Montag, dem fünften Tag nach dem Überfall, wurde er nach Hause gebracht. Er litt immer noch große Schmerzen und hatte nach wie vor kein Wort gesprochen. Dr. Corriden Wade sollte täglich nach ihm sehen, später dann, wenn seine Genesung schließlich Fortschritte machte, alle zwei Tage. Überdies mußte Rhys vorläufig von einer ausgebildeten Krankenschwester gepflegt werden. Auf Empfehlung des jungen Polizisten, der den Fall bearbeitete, und nachdem er die entsprechenden Nachforschungen bezüglich ihrer Fähigkeiten angestellt hatte, stimmte Wade der Einstellung einer jener Frauen zu, die mit Florence Nightingale auf die Krim gezogen waren, einer gewissen Miss Hester Latterly. Sie war daran gewöhnt, für junge Männer zu sorgen, die im Kampf beinahe tödliche Verletzungen erlitten hatten. Die Entscheidung für Miss Latterly wurde von allen Seiten begrüßt.
    Für Hester selbst war es eine erfreuliche Abwechslung, nachdem sie eine ältliche und äußerst ermüdende Dame gepflegt hatte, deren Probleme zum größten Teil auf Übellaunigkeit und Langeweile zurückzuführen gewesen und durch zwei gebrochene Zehen nur geringfügig verschlimmert worden waren. Mit einer tüchtigen Kammerzofe wäre ihr genausogut gedient gewesen, aber eine Krankenschwester entsprach mehr ihrem Sinn fürs Dramatische, und sie beeindruckte ihre Freundinnen mit endlosen Reden, in denen sie ihre Lage mit der Situation der Kriegshelden verglich, die Hester vor ihr gepflegt hatte.
    Hester gelang es mit Mühe, höflich zu bleiben, und das auch nur, weil sie die Anstellung dringend benötigte, um zu überleben. Der finanzielle Ruin ihres Vaters hatte zur Folge gehabt, daß sie ohne jedes Erbe dastand. Charles, ihr älterer Bruder, hätte sie jederzeit versorgt, da man es von Männern erwartete, daß sie sich um ihre unverheirateten weiblichen Verwandten kümmerten, aber eine solche Abhängigkeit hätte eine Frau wie Hester erdrückt. Sie hatte auf der Krim eine außerordentliche Freiheit zu schmecken bekommen und eine Verantwortung getragen, die gleichzeitig beglückend und beängstigend gewesen war. Jedenfalls würde sie nicht den Rest ihrer Tage in stiller Häuslichkeit verbringen und einem zwar freundlichen, aber doch sehr phantasielosen Bruder Gehorsamkeit und Dankbarkeit bezeugen.
    Als Hester in dem Hansom Platz genommen hatte, der sie zu ihrer neuen Stellung bringen sollte, überlegte sie, daß ihre Unabhängigkeit beträchtliche Vorteile mit sich brachte. Sie konnte Freundschaften schließen, wo es ihr gefiel und mit wem es ihr behagte. Sie dachte an Monk. Monk besaß einige Eigenschaften, die sie zutiefst bewunderte: Mut, Willensstärke,

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