Stilles Echo
durchweicht war.
Als Evan das Krankenhaus verließ, war er zutiefst betroffen und an Leib und Seele erschöpft. Außerdem fror er jetzt so sehr, daß er nicht mehr aufhören konnte zu zittern. Er nahm sich einen Hansom, um heim in sein Quartier zu fahren. Er wollte mit diesem schrecklichen Mantel nicht in einen Omnibus steigen, und er verspürte nicht den Wunsch, neben anderen Menschen zu sitzen, anständigen Menschen, die ihr Tagewerk vollendet hatten und nichts wußten von dem, was er gesehen und empfunden hatte, die nichts von dem jungen Mann wußten, der in St. Thomas lag und vielleicht nie wieder erwachen würde.
Um neun Uhr hatte er den Schneider gefunden. Er sprach persönlich mit Mr. Jiggs von Jiggs und Muldrew, einem rundlichen Mann, der seine ganze Kunstfertigkeit benötigte, um seinen üppigen Bauch und seine ziemlich kurz geratenen Beine zu kaschieren.
»Was kann ich für Sie tun, Sir?« fragte er mit einer gewissen Mißbilligung, als er das Paket unter Evans Arm sah. Gentlemen, die Kleider auf diese Art zusammenrollten, schätzte er gar nicht.
So behandelte man nicht das Ergebnis hochqualifizierter Handwerkskunst.
Evan hatte weder Zeit noch Lust, auf das Feingefühl anderer Rücksicht zu nehmen.
»Haben Sie einen Klienten mit Namen R. Duff, Mr. Jiggs?« fragte er rundheraus.
»Meine Klientenliste ist eine vertrauliche Angelegenheit, Sir.«
»Es handelt sich um einen Mordfall«, fuhr Evan den Mann an.
»Der Besitzer dieses Anzugs liegt auf Tod und Leben im St. Thomas. Ein anderer Mann, der ebenfalls einen Anzug mit Ihrem Etikett trug, befindet sich im Leichenschauhaus. Ich weiß nicht, wer sie sind, das hier ist das einzige, was ich habe.« Er ignorierte Jiggs’ kreidebleiches Gesicht und die weit aufgerissenen Augen. »Wenn Sie mir Auskunft geben können, dann verlange ich, daß Sie das tun.« Er warf den Mantel auf den Schneidertisch.
Jiggs prallte zurück, als handele es sich um ein lebendiges und gefährliches Wesen.
»Wenn Sie bitte einen Blick darauf werfen wollen«, befahl Evan.
»O mein Gott!« Mr. Jiggs preßte sich eine schweißnasse Hand auf die Stirn. »Was ist denn bloß passiert?«
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Evan eine Spur freundlicher. »Würden Sie sich bitte diesen Mantel ansehen und mir sagen, ob Sie wissen, für wen Sie ihn angefertigt haben?«
»Ja. Ja, natürlich. Ich kenne meine Gentlemen, Sir.« Mit spitzen Fingern schlug Mr. Jiggs den Mantel gerade so weit auseinander, daß er sein eigenes Etikett sehen konnte. Er warf einen kurzen Blick darauf, strich mit dem Zeigefinger über den Stoff und sah dann zu Evan auf. »Diesen Anzug habe ich für den jungen Mr. Rhys Duff gemacht. Aus der Ebury Street, Sir.« Er sah extrem blaß aus. »Es tut mir wirklich sehr leid, daß ihn ein Verhängnis ereilt zu haben scheint. Es bekümmert mich zutiefst, Sir.«
Evan biß sich auf die Unterlippe. »Natürlich. Haben Sie auch einen Anzug aus brauner Wolle für einen anderen Gentleman angefertigt, der möglicherweise mit ihm verwandt ist? Dieser Mann müßte Mitte Fünfzig gewesen sein, von durchschnittlicher Größe und recht kräftigem Körperbau. Er hatte graues Haar, deutlich heller als das von Rhys Duff, würde ich sagen.«
»Ja, Sir.« Jiggs holte bebend Atem. »Ich habe mehrere Anzüge für Mr. Leighton Duff gemacht, das ist Master Rhys’ Vater. Ich fürchte, er könnte derjenige sein, den Sie beschreiben. Wurde er ebenfalls verletzt?«
»Es tut mir leid, das zu sagen, aber er ist tot, Mr. Jiggs. Könnten Sie mir die Hausnummer der Duffs in der Ebury Street nennen? Ich habe die Pflicht, seine Familie zu informieren.«
»O aber natürlich. Wie furchtbar! Furchtbar! Ich wünschte, ich könnte in irgendeiner Weise behilflich sein.« Jiggs trat einen Schritt zurück, als er dies sagte, aber sein Gesicht spiegelte so ehrliche Bestürzung wider, daß Evan geneigt war, ihm zumindest teilweise zu glauben.
»Die Hausnummer in der Ebury Street?« wiederholte er.
»Ja… ja. Ich glaube, es ist Nummer vierunddreißig, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, aber ich werde in meine Bücher schauen. Ja, das mache ich sofort.«
Evan ging dann jedoch nicht gleich in die Ebury Street. Statt dessen kehrte er zunächst einmal ins St. Thomas zurück. Er hatte das Gefühl, daß es der Familie gegenüber gütiger wäre, wenn er sagen konnte, daß zumindest Rhys Duff noch lebte und vielleicht bei Bewußtsein war. Und wenn Rhys sprechen konnte, konnte er vielleicht erzählen,
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