Stilles Echo
schockiert gewesen wären, wenn irgend jemand so vulgär und roh gewesen wäre, davon zu sprechen. Jedermann war sich der körperlichen Funktionen bewußt, doch niemand brachte die Rede darauf; das war sowohl unschicklich wie auch überflüssig.
»Wie war er gekleidet, Ma’am?«
Ihre gewölbten Augenbrauen stiegen in die Höhe. »Gekleidet? Doch wahrscheinlich so, wie Sie ihn gefunden haben, Sergeant. Wie meinen Sie das?«
»Hatte er eine Uhr bei sich, Mrs. Duff?«
»Eine Uhr? Ja. Oh, ich verstehe. Er wurde beraubt? Ja, er hatte eine sehr schöne goldene Uhr. Sie wurde nicht bei ihm gefunden?«
»Nein. Hatte er die Gewohnheit, viel Geld bei sich zu tragen?«
»Das weiß ich nicht. Ich kann Bridlaw fragen, seinen Kammerdiener. Er könnte Ihnen wahrscheinlich nähere Auskunft geben. Ist das wichtig?«
»Möglicherweise.« Evan war verwirrt. »Wissen Sie, ob er seine goldene Uhr bei sich hatte, als er gestern das Haus verließ?« Es schien merkwürdig und einigermaßen verrückt, einen so augenfällig teuren Gegenstand wie eine goldene Uhr bei sich zu tragen, etwas so weithin Sichtbares, wenn man nach St. Giles ging, aus welchem Grund auch immer. Man forderte auf diese Weise einen Diebstahl geradezu heraus. Hatte er sich verirrt? Wurde er gegen seinen Willen dorthin gebracht? »Hat er davon gesprochen, daß er sich mit irgend jemandem treffen wolle?«
»Nein.« Ihre Antwort klang sehr bestimmt.
»Und die Uhr?« hakte er nach.
»Ja. Ich glaube, er hatte sie bei sich.« Sie sah ihn durchdringend an. »Er hatte sie fast immer bei sich. Er mochte sie sehr. Ich glaube, es wäre mir aufgefallen, wenn er ohne seine Uhr ausgegangen wäre. Jetzt erinnere ich mich auch wieder, daß er einen braunen Anzug trug. Keineswegs seinen besten, im Grunde sogar eher einen seiner bescheideneren Anzüge. Er hat ihn eigens für private Zwecke anfertigen lassen, fürs Wochenende und so weiter.«
»Und doch war es ein ganz gewöhnlicher Mittwoch, an dem er mit diesem Anzug ausging«, rief Evan ihr ins Gedächtnis.
»Dann muß er einen ganz privaten Abend geplant haben«, erwiderte sie schroff. »Warum stellen Sie diese Fragen, Sergeant? Welche Rolle spielt das jetzt noch? Er wurde doch nicht wegen seiner Kleidung ermordet!«
»Ich habe versucht, auf diese Weise herauszufinden, wohin er zu gehen beabsichtigte, Mrs. Duff. St. Giles ist kein Viertel, in dem wir einen Gentleman von Mr. Duffs finanzieller und gesellschaftlicher Position zu finden erwarten würden. Wenn ich wüßte, warum er dort war oder mit wem, wäre ich der Antwort auf die Frage, was dort vorgefallen sein mag, ein beträchtliches Stück nähergekommen.«
»Ich verstehe. Es war wohl sehr töricht von mir, daß ich das nicht gleich begriffen habe.« Sie wandte den Blick ab. Das Zimmer, in dem sie sich befanden, war behaglich und sehr harmonisch eingerichtet. Der einzige Laut kam vom Knistern der Flammen im Kamin und dem leisen, rhythmischen Ticken der Uhr auf dem Sims. Alles hier war anmutig und heiter und unterschied sich in jeder nur denkbaren Weise von der Gasse, in der der Besitzer dieses Hauses ums Leben gekommen war. St. Giles und das Leben dort entzogen sich höchstwahrscheinlich den Kenntnissen, ja sogar der Phantasie seiner Witwe.
»Ihr Mann ist kurz nach Ihrem Sohn aufgebrochen, Mrs. Duff?« Evan beugte sich beim Sprechen ein klein wenig vor, als wolle er ihre Aufmerksamkeit erringen.
Langsam drehte sie sich zu ihm um. »Ich nehme an, Sie wollen noch wissen, wie mein Sohn bekleidet war?«
»Ja, bitte.«
»Ich erinnere mich nicht. Es war etwas ganz Gewöhnliches, grau oder marineblau, denke ich. Nein… ein schwarzer Mantel und graue Hosen.«
Das waren die Kleidungsstücke, in denen man ihn gefunden hatte. Evan sagte nichts.
»Er meinte, er wolle ausgehen, um sich zu amüsieren«, sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich leiser und gepreßter. »Er war… wütend.«
»Auf wen?« Evan versuchte, sich die Szene vorzustellen. Rhys Duff war wahrscheinlich nicht älter als achtzehn oder neunzehn, noch immer unreif und rebellisch.
Sie hob kaum merklich die Schultern. Es war eine Geste des Leugnens, als könne es keine Antwort auf diese Frage geben.
»Ist es zu einem Streit gekommen, Ma’am, zu einer Meinungsverschiedenheit?«
Sie schwieg so lange, daß er bereits fürchtete, sie werde gar nichts erwidern. Natürlich war es zutiefst schmerzlich für sie. Die Tatsache, daß sie den Streit nicht augenblicklich leugnete, war Antwort genug.
»Es ging um
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