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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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hatte er seit mehr als zwei Wochen nicht gesehen, und er war sich bewußt, daß er sie in der unmittelbaren Zukunft auch nicht zu sehen wünschte. Seine Rolle in Rathbones Verleumdungsprozeß hatte ihn auf den Kontinent geführt, sowohl nach Venedig als auch in ein ehemaliges kleines deutsches Fürstentum. Der Aufenthalt dort hatte ihm eine Kostprobe von einem ganz anderen Leben verschafft, einem Leben des Glanzes, des Wohlstands und des Müßiggangs, des Lachens und der Oberflächlichkeit, und all das war ihm ungemein verführerisch erschienen. Es hatte aber auch Elemente gegeben, die ihm nicht unvertraut gewesen waren. Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit waren wach geworden, an eine Zeit, bevor er der Polizei beigetreten war. Er hatte darum gekämpft, diesen Erinnerungen weiter auf den Grund zu gehen, und war gescheitert. Wie alle anderen Erinnerungen waren auch diese ihm verloren, bis auf einige wenige flüchtige Bilder ab und zu, einige wenige Fenster, die sich plötzlich öffneten, ihm aber nur einen winzigen Ausschnitt zeigten, bevor sie sich wieder schlössen und ihn in noch größerer Verwirrung als zuvor zurückließen.
    In Deutschland hatte er sich in Evelyn von Seidlitz verliebt. Zumindest hatte er geglaubt, verliebt zu sein. Gewiß war es eine köstliche und erregende Erfahrung gewesen, die sein Denken ausgefüllt und seinen Puls beschleunigt hatte. Es hatte weh getan, auch wenn es ihn lange nicht so sehr überrascht hatte, wie es der Fall hätte sein müssen, schließlich herauszufinden, daß Evelyn ein seichtes Geschöpf und unter der Oberfläche von Charme und sprühendem Witz durch und durch egoistisch war. Am Ende hatte er sich nach Hesters schrofferen, härteren Qualitäten zurückgesehnt, nach ihrer Aufrichtigkeit, ihrer Wahrheitsliebe und ihrem Mut. Selbst ihre Tugendhaftigkeit und ihre selbstgerechten Anschauungen hatten eine Art Sauberkeit an sich, wie ein süßer, kühler Wind nach heißen, von Fliegenschwärmen gezeichneten Tagen.
    Monk beugte sich vor und griff nach dem Schürhaken, um in den Kohlen zu stochern, er schob sie unbarmherzig von einer Seite zur anderen. Er wollte nicht an Hester denken. Sie war unberechenbar, arrogant und bisweilen selbstgerecht, ein Charakterfehler, den er bis dato ausschließlich bei Männern erlebt hatte. Er konnte es sich nicht leisten, sich von solchen Gedanken angreifen zu lassen.
    Monk hatte gegenwärtig keinen interessanten Fall, was seine düstere Laune noch verschlimmerte. Einige kleinere Diebstähle, um die er sich kümmern mußte, für gewöhnlich entweder ein Diener, dessen Entlarvung tragisch einfach war, oder ein Einbrecher, den zu finden ans Unmögliche grenzte, weil er einer der in den Elendsvierteln zusammengepferchten Zehntausenden Unglücklicher war und binnen kürzester Frist wieder in deren Massen verschwand.
    Aber solche Fälle waren besser als gar keine Arbeit. Außerdem konnte er sich natürlich immer an Rathbone wenden und sehen, ob dieser irgendwelche Informationen benötigte. Aber das war nur eine letzte Zuflucht, da es Monks Stolz untergrub. Er mochte Rathbone. Sie hatten viele Fälle miteinander gelöst und einige Gefahren gemeinsam überstanden. Zu oft hatten sie Seite an Seite jede Unze Phantasie zu einem gemeinsamen Zweck aufgeboten, um nicht mit der notwendigen Bewunderung eine gewisse Stärke im anderen erlebt zu haben. Und weil sie sowohl Triumph als auch Scheitern miteinander geteilt hatten, verband sie eine tiefe Freundschaft.
    Aber da war auch eine gewisse unterschwellige Gereiztheit, eine Uneinigkeit, die zu häufig an ihnen beiden nagte. Da waren Stolz und Vorurteile, die häufiger aneinanderprallten, als daß sie einander ergänzt hätten. Und dann war da immer noch Hester. Sie brachte die beiden Männer einander näher und stand gleichzeitig zwischen ihnen.
    Aber Monk zog es vor, nicht an Hester zu denken, schon gar nicht im Zusammenhang mit Rathbone.
    Er freute sich, als die Türglocke erklang und einen Augenblick später eine Frau eintrat. Sie war vielleicht Anfang Vierzig, aber auf eine reife und ziemlich offensichtliche Art immer noch recht attraktiv. Ihr Mund war zu groß, aber sinnlich geformt, ihre Augen waren wunderschön und ihre Gestalt ein wenig zu gut mit Fleisch gepolstert. Ihre Figur ließ sich zweifellos als drall bezeichnen. Die Kleider waren dunkel und einfach und von nichtssagender Qualität, aber die Frau hatte eine Ausstrahlung, die augenblicklich Selbstvertrauen, ja sogar Unverfrorenheit

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