Stilles Echo
weiß. Aber ich würde schrecklich gern mal den Nil hinauffahren! Sie nicht?« O Gott! Sie hatte es schon wieder getan! Sie war viel zu geradeheraus gewesen und erbärmlich unbeholfen! Diese letzte Bemerkung ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Wieder spürte sie die Flut verlegener Hitze in ihrem Gesicht.
Diesmal lachte Rathbone offen heraus. »Hester, meine Liebe, Sie dürfen sich niemals ändern! Manchmal sind Sie mir so fremd, daß ich unmöglich erraten könnte, was Sie als nächstes sagen oder tun werden. Und dann wieder sind Sie so durchsichtig wie das Frühlingslicht. Verraten Sie mir: Wer ist Signor Belzoni, und was hat er entdeckt?«
Stockend zuerst antwortete sie ihm und gab sich alle Mühe, sich daran zu erinnern, was Arthur Kynaston erzählt hatte. Und dann, während Rathbone ihr weitere Fragen stellte, kam das Gespräch wieder in Fluß, und ihr Unbehagen verschwand.
Es war fast Mitternacht, als sie sich neben seiner Kutsche verabschiedeten. Sie standen in der Ebury Street vor dem Haus der Duffs, der Nebel hatte sich gehoben, und es war eine klare Nacht, trocken und bitterkalt. Rathbone stieg aus, um ihr hinabzuhelfen, bot ihr seine Hand und gab ihr mit der anderen auf den eisüberzogenen Pflastersteinen Halt.
»Vielen Dank«, sagte sie und meinte damit viel mehr. Der Abend war eine Insel der Wärme gewesen, sowohl körperlich als auch seelisch – einige Stunden, in denen sie allen Schmerz und allen Kampf hatte vergessen können. Sie hatten von wunderbaren Dingen gesprochen und Begeisterung, Lachen und Phantasie miteinander geteilt. »Ich danke Ihnen, Oliver.«
Er beugte sich vor, seine Hand spannte sich fester über ihrer, und er zog Hester ein wenig näher an sich heran. Dann küßte er sie ganz sacht auf die Lippen, behutsam, aber ohne das leiseste Zögern. Sie hätte nicht zurückweichen können, selbst wenn sie das gewollt hätte. Es war ein verblüffend süßes und angenehmes Gefühl, und noch als sie die Treppe hinaufging und wußte, daß er auf der Straße stand und ihr nachsah, konnte sie das Glück dieses Augenblicks spüren, wie es sie durchströmte und schließlich ihr ganzes Wesen ausfüllte.
5
Evan fand den Fall Duff zunehmend verwirrend. Er hatte sich von einem Zeichner ein Porträt von Leighton und Rhys Duff anfertigen lassen, und er und Shotts waren mit dem Bild durch St. Giles gezogen, um festzustellen, ob irgend jemand die beiden wiedererkannte. Gewiß mußten zwei Männer, die im Alter eine Generation auseinanderlagen, an diesem Ort eine gewisse Aufmerksamkeit erregen. Sie hatten es bei Pfandleihern, in Bordellen und Freudenhäusern versucht, in Gaststuben und Pensionen, in Spielhöllen, Kneipen und sogar in den Dachböden hoch oben unter den Oberlichtern der Häuser, wo die Falschmünzer ihrer Arbeit nachgingen. Sie hatten auch die gewaltigen Kellergewölbe abgesucht, in denen Hehler ihre Ware lagerten. Niemand verriet auch nur mit einem Wimpernschlag, daß er die beiden Männer kannte. Nicht einmal eine in Aussicht gestellte Belohnung konnte irgend etwas Nützliches zutage fördern.
»Vielleicht waren sie das erste Mal hier?« meinte Shotts düster und zog sich den Kragen hoch, um sich gegen den fallenden Schnee zu wappnen. Es war fast dunkel. Sie gingen mit gegen den Wind gesenkten Köpfen durch die Straßen, ließen St. Giles hinter sich und bogen nach Norden in die Regent Street ein, wo sie von dichtem Verkehr und Lichtern empfangen wurden. »Ich wüßte nicht, wen wir sonst noch fragen könnten.«
»Glauben Sie, die Leute lügen?« fragte Evan nachdenklich.
»Das wäre durchaus nachvollziehbar, da Duff schließlich ermordet wurde. Mit Mord will niemand etwas zu schaffen haben.«
»Nein.« Shotts wich vorsichtig einer Pfütze aus. »Ich wüßte es, wenn zumindest einer von diesen krummen Hunden lügen würde. Vielleicht sind die Duffs nur zufällig hiergewesen. Haben sich verirrt!«
Evan machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Die Überlegungen, die der andere anstellte, waren es nicht wert.
»Vielleicht haben sie sie auch deshalb nicht wiedererkannt, weil wir die falschen Fragen gestellt haben«, überlegte Evan, der halb mit sich selbst sprach.
»Ach ja?« Shotts hielt mühelos mit ihm Schritt. »Und was wären die richtigen Fragen?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht war Rhys mit Freunden seines eigenen Alters dort. Schließlich geht man für gewöhnlich nicht mit seinem Vater zu einer Hure! Vielleicht ist es das, was die Leute verwirrt, der ältere
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