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Stimme aus der Unterwelt

Stimme aus der Unterwelt

Titel: Stimme aus der Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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wehte zu
Rüdiger herüber. Neugierig schob er einige Palmenblätter beiseite. Durch die
Lücke sah er einer jungen Frau ins Gesicht.
    Sie hatte das Rascheln bemerkt. Das
hübsche Gesicht unter dem schwarzen Krauskopf zeigte einen Anflug von Ärger.
    Rüdiger ließ die Blätter los. Eiskalter
Typ, dachte er, die läßt sich nicht einladen. Außerdem habe ich das gar nicht
vor. Eventuell sehe ich mich noch in einigen Zimmern um — nur aus Prinzip — und
dann eine Mütze voll Schlaf.
    Sein Essen wurde serviert. Gerade als
er die Kalbsleber anschnitt, hörte er schnelle Schritte von Damenschuhen. Sie
näherten sich und stoppten nebenan — bei dem kühlen Krauskopf.
    „Tut mir leid, Tanja“, sagte eine helle
Stimme. „Eher konnte ich nicht. Ich mußte den Artikel schreiben, und
Wolf-Dieter — das ist unser Zeichner — hat eine Art Phantomzeichnung gemacht.
Der Inspektor wird staunen, wenn er morgen die Zeitung aufschlägt.“

    „Worum geht’s denn?“ fragte die
Krausköpfige. „Um deine Reportage als blindes Mädchen? Ich bin ganz gespannt,
Susi.“
    Rüdiger stutzte, beugte sich zur Palme
und schob abermals — aber ganz vorsichtig — einige Blätter beiseite.
    Diese Susi saß so, daß er sie im Profil
sehen konnte.
    Sein Herzschlag setzte aus. Ein eisiger
Hauch schien den Dieb anzuwehen. Aber das täuschte. Der Kellner hatte lediglich
ein Fenster geöffnet, und schwüle Luft kam herein.
    Jetzt begann Rüdigers Herz zu hämmern.
    Beinahe hätte er sein Besteck fallen
lassen und sich an den Blättern der Palme festgehalten, um nicht vom Stuhl zu
rutschen.
    Die Blinde! Das war sie! Kein Zweifel.
Die roten Locken, das Gesicht, der grün-gelbe Anzug. Aber jetzt war sie nicht
blind. Wie lebhaft die mit den Augen rollte! Kein Blindenstock, kein
Blindenband!
    „Heh!“ sagte Tanja und starrte auf die
Lücke in der Palme. „Haben Sie vor, uns den ganzen Abend zu begaffen?“
    „’tschuldigung!“
    Rüdiger strich die Blätter glatt und
wünschte sich, daß alle 26 Palmen zwischen ihm und dem Nachbartisch stünden.
    Nicht blind! Diese Frau war nicht
blind. Also hatte sie ihn gesehen.
    „Wer ist denn das?“ hörte er Susis
leise Frage.
    „Keine Ahnung. Irgendso ein Typ. Wenn
er noch mal durch die Blätter linst, setzen wir uns woanders hin.“
    Susi senkte die Stimme. Aber Rüdiger
verstand jedes Wort.
    „Es hat nur indirekt mit meiner
Reportage als Blinde zu tun, Tanja. Inspektor Wondrascheck meint: Wenn der Kerl
gemerkt hätte, daß ich ihn sehe, wäre es mir vermutlich übel ergangen. Immerhin
hat er Marcel Mair-Chateaufort brutal niedergeschlagen. Hinterrücks. Der alte
Mann war bewußtlos, hat eine schwere Gehirnerschütterung. Er wurde beraubt. Das
war vorhin — buchstäblich in der Minute, bevor der Alpen-Express hielt. Aber
ich erzähl mal von vorn.“
    Sie tat’s.
    Rüdiger hörte zu.
    Ihm wurde so übel, daß er keinen Bissen
mehr runterbrachte.
    „...weil ich den alten Mair-Chateaufort
wirklich sehr mag“, sagte Susi, „gebe ich mir alle Mühe, den brutalen Räuber zu
entlarven. Mein Bericht steht morgen im Blatt. Dazu die Phantomzeichnung nach
meinen Angaben von diesem Typ.“
    „Wie sieht er denn aus?“ fragte Tanja.
    „Nach nichts. Das ist es leider. Man
kann ihn nur schwer beschreiben, und noch schwieriger ist es, ihn zu zeichnen.
Ein Dutzendgesicht. Mittelblond, etwa 170 cm groß, heller Anzug. Wondrascheck
vertraut darauf, daß ich den Kerl identifizieren kann, wenn sie ihn haben — beziehungsweise
einen Verdächtigen aufgreifen. Na, erkennen werde ich ihn sofort. Ein
Personengedächtnis habe ich, zum Glück.“
    Rüdiger spürte, wie kalter Schweiß ihm
auf die Stirn trat.
    So also stand der Fall. Man hielt ihn
für den Gewalttäter. Wie konnte es auch anders sein?
    Ich würde selber so denken, überlegte
er, wenn ich diese Susi wäre. Ausgerechnet eine Reporterin, die ‘ne Blinde
spielt, muß mir als Zeugin über den Weg stolpern. Verdammt!
    Er wußte als Profi: Lange Finger machen
bei günstiger Gelegenheit, das war eine Sache — Gewalt anwenden, einen alten
Mann von hinten halbtot schlagen, das war eine andere.
    Der Dieb rührte sich nicht.
    Eben noch hatte die Palme ihn gestört.
Weil sie die Sicht verstellte. Jetzt sah er nur noch die Lücken zwischen den
Blättern und den viel zu dünnen Stamm.
    Die beiden Frauen hatten einen leichten
Imbiß bestellt. Der Kellner schien sie zu kennen. Er scherzte mit ihnen.
    Dann kam er zu Rüdiger, der sein Essen
kaum angerührt

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