Stimmen der Nacht
müssen von hier verschwinden«, sagte eine Stimme hinter ihm, aber es war keine Stimme der Nacht, sondern die Stimme eines lebendigen Menschen. Er sprach Englisch, mit dem typischen Akzent der Ostküste, und packte ihn am Arm, zerrte ihn mit sich ins dichte Unterholz. »Kommen Sie, Gulf, schnell! Wir müssen weg von hier!«
Zweige brachen schnappend, Ranken zerkratzten ihnen die Haut. Gulf stolperte benommen durch das Dickicht. Das Gesicht neben ihm war ein auf und ab hüpfendes braungebranntes Oval unter der breiten Krempe eines Filzhuts, die Augen waren wie erloschene Kohlenstücke in einem Erdloch; sie schienen nicht zu leben, sondern alle Ausdruckskraft dem Mund zu überlassen, den wulstigen Lippen. Einige verdünnte Tropfen afrikanischen Blutes mußten in seinen Adern kreisen, vielleicht befanden sich unter seinen Vorfahren auch Indianer: Die Nase war ein schroffer Überhang in der Steilwand des Gesichts, die Wangenknochen waren wie hohe, hervorstehende Simse. Schweißtropfen perlten unter dem Hut hervor.
»Schneller«, keuchte der Mann und zog ihn ungeduldig am Arm.
Gulf riß sich los. Er wich zurück, atmete schwer, starrte den Fremden an, dann die Pistole in seiner Hand. In der Ferne sprachen die Waffen, hämmernd und grollend, Echos aus einem Steinbruch. Keine Schreie. Die Schreie der Sterbenden waren zu leise, um bis zu ihnen herüberzudringen, und der Wald dämpfte alle Laute.
»Verdammt, die Front rückt näher. Diese verfluchten Werwölfe …« Die Augen des Mannes huschten hin und her. »Wir müssen weiter«, sagte er. »Kommen Sie, Gulf.«
Gulf rührte sich nicht. Wer sind Sie? wollte er fragen. Und: Wo, zum Teufel bringen Sie mich hin? Statt dessen sagte er: »Die Stimmen. Die Stimmen sprechen nicht mehr.«
Der Mann schob den Hut aus der Stirn und wies mit seiner Pistole auf den Dom, der als zerklüfteter Schattenriß die Baumkronen überragte. »Hier draußen ist es ihnen zu hell, schätze ich. Die Sonne gefällt den Gespenstern nicht. Lichtscheues Gesindel. Gehen Sie in den Dom, Gulf, und Sie werden sie hören.« Er schwieg einen Moment. »Ich bin Carmichael. CIA. Von der Gruppe Splitz.«
»Splitz ist tot«, murmelte Gulf.
Carmichael nickte. »Ich weiß.«
Über den Baumwipfeln stieg Rauch auf; in dichten, schwarzen Schwaden trieb er von Westen heran, wo der Wald auf weiter Fläche brannte. Das sommerlich trockene Gehölz war ein leichtes Opfer für die Flammen. Gierig fraß sich das Feuer tiefer in die Ruinenstadt hinein.
»Bald wird nichts mehr von Köln übrig sein«, fügte Carmichael hinzu. »Und wenn erst einmal der Dom verschwunden ist, erinnert sich in zehn Jahren niemand mehr an den Namen der Stadt.«
Der Dom? Nein. Gulf schüttelte unwillkürlich den Kopf. Carmichael irrte sich. Er hatte nicht das gesehen und das gespürt, was er im Dom gespürt hatte. Der Dom war zeitlos, ewig.
»Der Dom verschwindet nicht«, sagte er heiser. »Er ist nicht wie die Stadt. Er hat alles überdauert. Es wird ihn noch in tausend Jahren geben.«
Carmichael wandte sich ab. »Wir müssen weiter. Kommen Sie.«
Gulf bewegte sich nicht. Er roch die Gefahr so deutlich wie den Rauch der großen Feuer, aber da war eine hartnäckige Stimme in ihm, die nach Antworten verlangte, und in den letzten vier Jahren hatte er gelernt, wie wichtig Antworten waren.
»Was ist passiert?« fragte er.
Carmichael griff nach seinem Arm. »Kommen Sie schon, verdammt. Wir müssen von hier verschwinden. Wir haben keine Zeit für lange …«
»Was ist passiert?«
Der CIA-Agent kniff die Lippen zusammen. Dann seufzte er. »Werwölfe. Sie müssen sich seit Wochen auf diesen Tag vorbereitet haben. Eine halbe Armee ist in die Ruinenstadt eingesickert, ausgerüstet mit schweren deutsch-amerikanischen Waffen. Sie haben im Morgengrauen unser Camp angegriffen. Ein Teil der Hubschrauber wurde am Boden in Brand geschossen und zwei oder drei andere haben die Raketen nach dem Alarmstart erwischt. Raketen in den Händen der Werwölfe! Ich will verdammt sein, wenn den Guerilleros nicht einige Militärberater der ODESSA zur Seite stehen.«
»Und der General?« fragte Gulf.
»Auf dem Weg zur Militärkommandantur. Verstärkung ist angefordert, aber ich glaube nicht, daß die Truppen rechtzeitig eintreffen werden, um die Nazis an der Besetzung des Doms zu hindern. Der Aufstand ist nicht auf Köln begrenzt; überall im Reich erhebt sich der Werwolf-Orden.« Carmichael lachte grimmig. »Aber wir werden ihnen einen Strich durch die Rechnung
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