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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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kaum noch Schmerzen.
    Er rasierte sich und wusch den Schweiß und den Schmutz von der Haut. Carmichael kam zurück. »Ein Anzug«, sagte er und warf alles auf die Koje. »Hemd, Schuhe, Unterwäsche, Krawatte. Es wird Ihnen alles passen. Ihre Größe. Das ist einer der Vorzüge, wenn man für die Firma arbeitet – die Organisation ist perfekt.«
    Er verschwand erneut und erschien kurz darauf mit einem Tablett; Baguettes, mehrere Käsesorten, Kaffee, eine Flasche Rotwein. Gulf zog sich an. Der Anzug war dunkelblau, gestreift, teuer, die Krawatte dezent gemustert, die schwarzen Lederschuhe waren maßgefertigt. Bühnenkleidung, Showkleidung.
    Abenteuer Live, dachte Gulf. Elizabeth hatte recht – dies ist mein Abenteuer.
    »Die Madeleine lag schon seit zwei Tagen weiter stromaufwärts vor Anker«, berichtete Carmichael. »Fouchet hat an einem der kleinen Weindörfer anlegen lassen und einen Maschinenschaden vorgetäuscht. Die Madeleine sollte unsere Rückversicherung sein, falls etwas schiefgehen würde. Wir wußten, daß es früher oder später zu einem Werwolf-Aufstand kommen mußte. Die Waffenlieferungen aus Deutsch-Amerika, die zunehmende Agententätigkeit der ODESSA und dann noch die Stimmen im Dom …«
    Nachdenklich schlürfte er seinen Kaffee.
    »Wissen Sie, diese Stimmen … In der Nacht, als Sie draußen vor dem Dom geschlafen haben – ich bin hineingegangen. Ich habe die Stimmen gehört. Hitler, Goebbels und die anderen Gespenster. Sie haben sie nicht zum Schweigen gebracht.«
    »Nein«, sagte Gulf. »Es war verrückt, auch nur darauf zu hoffen. Diese ganzen vier Jahre lang habe ich keinen Einfluß auf Elizabeth gehabt. Warum also sollten Hitler oder Göring auf mich hören? Sie haben mich ignoriert. Ich glaube sogar, sie haben mich nicht einmal bemerkt. Sie reden und reden, aber sie scheinen nicht zu sehen, was in unserer Welt geschieht. Darin unterscheiden sie sich von Elizabeth. Obwohl Elizabeth nie eine meiner Fragen beantwortet hat – ich wußte immer, daß sie mich sieht, daß sie bei mir ist.«
    »Sie ist hier? Jetzt? In diesem Moment? Aber warum spricht sie dann nicht?«
    Gulf zögerte. »Elizabeth spricht nicht immer. Aber sie ist da. Sie ist mir bis nach Europa gefolgt, und sie wird mir weiter folgen, wohin ich auch gehe. Sie läßt mich nicht mehr allein.«
    »Ich kann es trotzdem nicht glauben«, murmelte Carmichael. Seine Hände bebten leicht, als er die Weinflasche entkorkte und die Gläser füllte. »Ich meine, es ist so … so absurd. Die Toten, die aus den Gräbern auferstehen. Die Stimmen aus dem Jenseits. Gespenster im Dom. Verdammt, Hitler ist seit über vierzig Jahren tot, im Atomblitz von Berlin verglüht. Warum spricht er jetzt? Wieso sprechen Goebbels und Himmler und Rosenberg? Und Ihre Frau … Sie hat sich verbrannt, aber sie ist nicht tot. Etwas stimmt nicht mit der Welt, wenn derartige Dinge möglich sind. Irgend etwas ist ganz und gar verkehrt …«
    »Wir müssen uns damit abfinden«, sagte Gulf.
    »Aber was ist, wenn auch die anderen zu wandern beginnen?«
    »Wandern?« Gulf blickte auf. »Wie meinen Sie das?«
    »Der Führer. Die anderen Nazi-Gespenster. Ich frage mich, ob sie im Dom bleiben oder ob sie wie Elizabeth zu wandern beginnen. Um die ganze Welt. Vielleicht verlassen sie den Dom und rufen die Deutschen zum Krieg auf. Vielleicht sind sie nur deshalb von den Toten zurückgekehrt – um Krieg zu führen, uns aus dem Reich zu verjagen und wieder ihre Herrschaft zu errichten. Oder … Ist es möglich, daß sie nach Deutsch-Amerika gehen?«
    »Vielleicht.« Gulf zuckte müde die Schultern. »Aber was spielt das schon für eine Rolle? Die Deutschen wissen jetzt Bescheid. Und wenn der Führer nicht zu ihnen kommt, dann werden sie ihn holen.«
    Carmichael schüttelte den Kopf. »Wir werden ihnen Hitler nicht freiwillig überlassen. Und jetzt ist es Tag. Solange es Tag ist, scheinen sie zu schweigen.«
    »Warum? Ich meine …« Gulf machte eine hilflose Handbewegung. »Warum sind sie im Morgengrauen verstummt? Warum sprechen sie nicht auch am Tag? Für Elizabeth ist das Tageslicht nie ein Hindernis gewesen.«
    »Ihre Frau ist schon vor vier Jahren von den Toten auferstanden«, erinnerte Carmichael. »Sie hat Zeit gehabt, sich anzupassen. Wahrscheinlich dauert es eine Weile, bis die Gespenster sich an den Tag gewöhnen.« Er lachte freudlos. »Und wenn sie das geschafft haben …«
    Er beendete den Satz nicht, aber Gulf ahnte, worauf er hinauswollte. »Sie glauben, daß die

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