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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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blieben.
    Gulf sah zum Ufer hinüber.
    Schwarzuniformierte Gestalten schwärmten aus dem Wald. Schüsse peitschten.
    »Kopf runter!« schrie Carmichael.
    Gulf fluchte und preßte sich an die Planken. Kugeln pfiffen dicht über ihn hinweg. Dann wurde das Feuer von der Madeleine erwidert; ein Maschinengewehr hämmerte und trieb die Werwölfe in den Wald zurück. Carmichael zischte einen Befehl, und die Franzosen legten sich wieder in die Ruder. Das Boot war ein Stück weit flußabwärts getrieben, und die Strömung machte ihnen zu schaffen. Weitere Schüsse, weitere Kugelgarben aus dem MG der Madeleine. Das Feuer der Werwölfe hielt noch eine Weile an, aber das Boot war inzwischen außer Reichweite ihrer Waffen, und schließlich schienen sie die Sinnlosigkeit ihres Tuns einzusehen. Es wurde still. Kurz darauf stieß das Boot gegen den Lastkahn. Die Männer an Bord zogen Gulf und Carmichael hinauf, während die Ruderer sich weiter heckwärts treiben ließen, das Boot vertäuten und dann an Bord folgten.
    Das Dröhnen des Dieselmotors steigerte sich, die Schiffsschraube wühlte das Wasser auf. Die Madeleine steuerte zielstrebig auf die tiefe Fahrrinne in der Mitte des Stroms zu.
    Carmichael führte Gulf zum Ruderhaus. Niemand sprach. Die Franzosen kauerten hinter den Kisten, beobachteten das Ufer, luden ihre Waffen nach und warteten auf einen neuen Angriff. Vorn am Bug, dort, wo das Maschinengewehr aufgebaut war, arretierte ein schlaksiger junger Mann die Dreifußlafette, die sich während des Gefechts gelockert hatte. Ein anderer schleppte neue Munitionsstreifen heran. Gulf sah zur bewaldeten Uferlinie. Die Rauchwolken über Köln waren dichter geworden.
    »Ich stelle Ihnen Fouchet vor«, sagte Carmichael. Er trat ins Ruderhaus; die Innenseite der Tür, bemerkte Gulf, war mit fingerdicken Metallplatten ausgelegt. »Die Fenster bestehen aus Panzerglas«, beantwortete Carmichael seine unausgesprochene Frage. »Der ganze Aufbau und der Kiel – alles gepanzert. Ich sagte schon, Fouchet kennt die Strecke; er weiß, was man tun muß, um als Rheinschiffer zu überleben. Ständig kommt es zu Überfällen der Werwölfe auf den Schiffsverkehr.«
    Vorn am Steuerrad stand der Zwerg, den Gulf schon vom Ufer aus gesehen hatte. Graues Haar quoll unter seiner zerknautschten Schiffermütze hervor und wucherte ungehemmt wie der lange Bart. Die Augen, die Nase und eine kurze Holzpfeife waren alles, was aus dem Haargewirr hervorschaute. An den Wänden hingen Sturmgewehre. In der Mitte stand ein einbeiniger, am Boden festgeschraubter Tisch, auf dem eine Karte lag; sie zeigte den Niederrhein, Holland, Rotterdam.
    »Kapitän Fouchet«, sagte Carmichael. »Jakob Gulf.«
    Fouchet nickte Gulf knapp zu und brummte etwas, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Er machte keinen sehr freundlichen Eindruck.
    »Der Kapitän versteht kein Englisch«, sagte Carmichael entschuldigend. »Kommen Sie mit. Sie sind sicher erschöpft und hungrig. Sie können sich frischmachen und etwas schlafen.«
    Er bog um den Tisch, und Gulf bemerkte erst jetzt die kurze, unter Deck führende Stiege. Die ausgetretenen Holzstufen knarrten. Ein niedriger, enger Raum empfing sie, nur ungenügend von einer einsamen Wandlampe erhellt. In einer Ecke stapelten sich Kisten; daneben lag der Durchgang zur Kombüse. Morgenlicht fiel durch die dicht unter der Decke angebrachten Bullaugen und ließ die blankgescheuerten Töpfe und Pfannen glänzen. Carmichael und Gulf passierten die Kombüse und folgten einem schmalen, bugwärts führenden Gang zu einer kleinen Kabine. Eine Koje, ein Tisch, zwei Holzschemel. Auf dem Tisch standen eine große Blechschüssel und ein Wasserkrug; in der Koje lagen Handtücher, Rasierzeug und ein Rasierspiegel bereit.
    »Es ist besser, Sie bleiben vorerst hier unten«, sagte Carmichael. »Ich möchte nicht, daß man Sie an Deck sieht, solange wir noch in der Nähe von Köln sind. Machen Sie sich frisch; ich besorge Ihnen etwas zu essen und neue Kleidung.«
    Er ging hinaus. Gulf goß Wasser in die Schüssel und griff nach dem Spiegel. Ein Gespenst sah ihm entgegen. Bleich und hohlwangig, stoppelbärtig, die Augen dunkel umrandet, die Haare wirr. Langsam zog er die schmutzige französische Uniformjacke aus, streifte das Hemd ab und überprüfte den Verband, den ihm noch die Hexe im Walddorf angelegt hatte, in der Nacht vor dem Angriff der alliierten Truppen. Kein Blutfleck auf dem Leinentuch; die Salben der Hexe hatten die Blutung gestillt. Und er hatte

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