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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Elizabeth mit ihrer letzten Bemerkung gemeint hatte. Er schüttelte verdrossen den Kopf. Närrisches Zeug, dachte er. Sie glaubt, wenn sie sich nicht verabschiedet, bleibt sie durch das Symbol bei mir, aber in Wirklichkeit ist die Trennung längst vollzogen. Sie ist von Anfang an dagewesen. Wir umkreisen einander wie zwei Himmelskörper. Unsichtbare Kräfte wirken auf uns, verhindern, daß wir zusammenkommen, verhindern, daß wir voneinander fliehen. Wir sehen uns, aber zwischen uns ist der Weltraum. Leerer Raum. Keine Möglichkeit, sich in dieser Leere zu verständigen. Es ist schrecklich, dachte er. Wir sollten uns umdrehen, hinter uns die Türen schließen und sie nie wieder öffnen, doch wir sind eingesperrt in einen Raum, in dem es keine Türen gibt, keine Türen und keine Fenster. Nur nackte Wände und das Gesicht des anderen.
    Eine Weile blieb er noch sitzen, winkte dann dem Kellner, gab ihm seine Kreditkarte, unterschrieb die Rechnung und holte an der Garderobe seinen Fuchsmantel ab. Langsam ging er zum Aufzug.
    »Jakob?« sagte Elizabeth dicht an seinem Ohr.
    Er drehte sich um, aber da war niemand. Er war allein.
    »Jakob!« sagte Elizabeth wieder.
    Und erst jetzt entdeckte er das dunkle Objekt, das um seinen Kopf schwirrte. Die Klette! dachte er. Es ist die Klette. Die Elektrische Klette spricht. Dieses verdammte Nazi-Maschinchen spricht mit Elizabeths Stimme …
    »Ich habe dich vermißt, Jakob«, flüsterte die Elektrische Klette, während es dunkel wurde im hellen Korridor, während die Wände auseinanderwichen und sich in sternklare Nacht verwandelten, während der Teppichboden unter seinen Füßen zu Unkraut und bemoosten Stein wurde und der Kölner Dom aus den Schatten wuchs. »Ich habe dich vermißt, denn du bist fortgewesen, so wie du immer fortgewesen bist. Ich habe dich gesucht und geglaubt, dich gefunden und mit dir gesprochen zu haben, aber ich habe keine Antworten erhalten und du hast keine Fragen gestellt. Es war ein seltsames Gespräch, eins von diesen seltsamen Gesprächen, bei denen man spricht und dennoch schweigt, bei denen man keine Worte wechselt, weil es keiner Worte bedarf, wenn man nur für sich lebt und niemand versteht und keinem etwas gibt. Doch die Welt, in der wir leben, ist keine Welt, die ohne Worte existieren kann, und deshalb hörst du mich jetzt, wie du mich von nun an immer hören wirst. Immer und ewig, Jakob, bis du mich verstehst und die Sprache wiedererlernst, die du vergessen hast …«
    Der Wind hatte sich in den Baumkronen verfangen, und bis auf sein leises Rauschen und das Rauschen des Rheins, in dem nach und nach die Nacht ertrank, war es still. Selbst im Dom war alles ruhig.
    Die Toten schwiegen.
    Gulf schlief.

8
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Er erwachte
früh,
kurz nach
Sonnenauf-
gang. Noch
war es kühl;
    Licht sickerte durch die Baumketten am Horizont und schlich sich wie ein unerwünschter Gast in die düsteren Ruinen von Köln. Von allen Seiten drang Vogelgezwitscher, aber es war nicht der Gesang der Vögel, der ihn geweckt hatte, sondern der Donner in der Ferne. Er schrak hoch. Es war kein Unwetter, es war Waffenlärm: der Donner rasch aufeinander folgender Explosionen, die Peitschenschläge einzelner Schüsse, das Hammerwerk mehrerer Maschinengewehre. Die Spatzen, die vor dem Dom auf den bemoosten Steinbrocken hüpften, flatterten verschreckt davon. Am Himmel, unter den Wolkenbänken, stob ein riesiger Schwalbenschwarm auseinander, und aus den Wolken stürzten, riesigen Habichten gleich, eine Rotte Hubschrauber.
    Ihre Bordwaffen bellten. Geschosse heulten durch die Luft und zogen glühende Striche über den Horizont. Die fernen Baumwipfel explodierten unter dem Einschlag der Geschosse, das grauverschorfte, solide Grün der überwucherten Ruinen ging in Flammen auf. Von einem Hügel, aus dem dichten, filzigen Dach des Waldes, stieg eine Rakete in den Himmel und zog einen Schweif aus hellem Rauch hinter sich her.
    Die Kampfhubschrauber drehten ab.
    Sie flohen in die orangerote Scheibe der Morgensonne hinein, über das breite Band des Stroms hinweg, aber die Rakete folgte ihnen und traf ihr Ziel. Ein grollender Donnerschlag, ein feuriger Fleck im Blau des Firmaments, Rauch und Flammenzungen, dann nur noch Rauch, der sich rasch verzog. Ein Trümmerregen ging auf den Wald nieder.
    Die Werwölfe! durchfuhr es Gulf. Schlaftrunken sprang er auf. Die Werwölfe greifen die Truppen des Generals an! Ein Aufstand. Und die Stimmen … Hitler im Dom … Der Werwolf-Orden erhebt sich …!
    »Wir

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