Stimmen der Nacht
haben, für die Gefallenen der großdeutschen Feldzüge. Bormann regiert die Gaustaaten, in Germania haben Farbige, Latinos und andere Untermenschen keinen Zutritt, aber die Deutschen sind keine Nazis. Dieser wahnsinnige ODESSA-General geht jedes Jahr im Amazonasgebiet auf Indiojagd, Rassenschande wird mit dem Tod bestraft, und jeder Latinodeutsche, der im Suff einen Mulatten erschlägt, wird im Völkischen Beobachter als Held gefeiert. Aber Deutsch-Amerika ist kein Nazi-Kontinent, natürlich nicht, es ist nur ein zu groß geratenes Disneyland für putzige braune Buben.«
Elizabeth zuckte die Schultern. »Überall gibt es Licht und Schatten.«
»Das solltest du den KZ-Häftlingen am Kap Hoorn sagen«, riet Gulf. »Vielleicht tröstet es sie darüber hinweg, daß man ihnen die Nieren, die Augen oder das Herz herausschneidet, um irgendeinem Parteibonzen per Transplantation das Leben zu retten. Wer weiß, vielleicht trägt sogar Bormann ein Stück von Che Guevara in seiner Brust. Oder war Che rassisch minderwertig? Verjudet? Verniggert?«
»Du bist auch nicht besser als diese verbohrten Exil-Nazis, die ständig mit dem Großen Ahnennachweis in der Tasche herumlaufen. Genau wie sie siehst du nur das, was du sehen willst. Die Oberfläche, das, was deine Vorurteile bestätigt. Aber die Zeiten haben sich geändert; die Welt hat sich geändert. Von den jungen Latinodeutschen glaubt kaum einer noch an die Rückeroberung des alten Reiches. Warum sollten sie auch? Sie haben jetzt genug Lebensraum, einen ganzen Kontinent.«
»Der den bedauerlichen Fehler hat, von ein paar hundert Millionen Untermenschen bewohnt zu werden«, sagte Gulf. »Aber ich bin überzeugt, die Deutschen werden mit ihrer großartigen Tüchtigkeit auch dafür eine Endlösung finden. Manchmal glaube ich, Goldberg hat recht. Wir sollten Germania und ein paar andere ihrer Städte atomisieren. Wir sollten es wirklich tun, und …«
»Dafür ist es zu spät.« Elizabeth schenkte ihm erneut ihr eigentümliches gläsernes Lächeln. »Die Deutschen haben inzwischen genug Atombomben und Nuklearraketen, um jede unserer Millionenstädte zu verbrennen, wenn es zum Krieg kommt. Sie sind mächtiger als je zuvor in ihrer Geschichte.«
»Ich glaube, du bewunderst sie«, sagte Gulf verblüfft. »Ich glaube, du bewunderst wirklich diese Nazi-Bande!«
»Ich möchte dir etwas zeigen, Jakob.« Elizabeth öffnete ihre Handtasche und griff hinein. Als sie ihre Hand wieder herauszog, hielt sie ein kleines, dunkles Objekt zwischen Daumen und Zeigefinger, nicht größer als eine Fliege. Während Gulf das Objekt neugierig anstarrte, wechselte es die Farbe. Es wurde weiß. Weiß wie Elizabeths Haut. Schwarz gestreift. Wie das Netzmuster ihrer Handschuhe.
»Was ist das?«
»Eine Klette«, sagte Elizabeth. »Eine Elektrische Klette.«
Gulf hob die Brauen. »Eine Klette? Diese Automaten, die die Latinodeutschen im Kalten Krieg, eingesetzt haben? Aber die waren größer; so groß wie Äpfel.«
»Das ist die neue Generation, frisch aus den mikroelektronischen Klettenfabriken von Buenos Aires. Ich habe sie aus Deutsch-Amerika mitgebracht. Hier in den Staaten werden sie erst nächstes Jahr verkauft. Ist sie nicht hübsch?«
Elizabeth setzte die Klette auf den Tisch. Kaum berührte das künstliche Insekt die Tischdecke, begann es zu krabbeln. An dem onyxfarbenen Aschenbecher vorbei, über Gulfs Kaffeelöffel und dem braunen Fleck neben der Tasse und weiter bis zur Tischkante. Als die Klette die Kante erreichte, schwirrten ihre durchsichtigen Flügelmembranen, und sie stieg vom Tisch auf und schoß zur Decke.
Sie verschwand.
Gulf wartete, aber sie kam nicht zurück.
»Sie ist fort«, sagte er.
»Sie kommt wieder«, versicherte Elizabeth. »Die Kletten kommen immer wieder. Sie verschwinden nie. Sie folgen dem, für den sie bestimmt sind.«
Sie stand auf, beugte sich zu ihm hinüber und küßte ihn auf die Stirn. Ihre Lippen waren hart und trocken. Marmorlippen.
»Du gehst?«
»Ein Teil von mir bleibt. Auch wenn es scheint, daß ich fortgehe, bleibe ich bei dir. Also werde ich mich nicht verabschieden. Ich habe Abschiede nie gemocht. Sie haben etwas Endgültiges an sich, findest du nicht auch? Wenn man sich trennt, trennt man sich stets für immer. Jedes Wiedersehen ist in Wirklichkeit eine erste Begegnung.«
Sie wandte sich ab und ging. Gulf sah ihr nach. Dann wanderten seine Blicke weiter, zum Schneetreiben, dem verblassenden Licht der Wintersonne, und er fragte sich, was
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