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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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machen. Der Dom ist präpariert. Wenn die Werwölfe den Dom besetzen, gehen ein Dutzend Bomben hoch. Es wird keine neue Kultstätte für diese Bastarde geben. Und vielleicht hält dann auch Hitler das Maul …«
    Irgendwo in den Ruinen, nicht weit von ihnen entfernt, tönten Stimmen. Barsche Befehle. Deutsche Worte.
    »Wir müssen weiter«, zischte Carmichael. »Kommen Sie jetzt, Gulf. Schnell.«
    Er schützte das Gesicht mit den Armen und brach durch die dornigen Brombeer- und Ginsterbüsche, die den Weg zum nahen Rheinufer versperrten. Gulf folgte ihm. Der Rauch war jetzt dicht und beißend; die Feuer schienen näherzurücken. Gulf strauchelte auf dem abschüssigen Boden und hielt sich im letzten Moment an Carmichael fest.
    Vor ihm schimmerte der Rhein durch das hohe Buschwerk.
    »Wohin gehen wir?« keuchte er.
    »Zur Madeleine«, sagte Carmichael gedämpft, ohne seine Schritte zu verlangsamen. »Rheinabwärts. Nach Rotterdam. Von dort aus fliegen wir zurück in die Staaten.«
    Er wandte sich nach links, wo die Büsche auseinanderwichen und ein schmaler Trampelpfad durchs Unterholz bis zu den Bäumen am Flußufer führte. Das Rauschen des Stroms wurde lauter, und dann waren sie unter den Trauerweiden, die mit ihren Ästen weit hinaus über das Wasser griffen und die Uferzone in Schatten tauchten.
    Und dort, jenseits der Schatten, wo das Wasser tief genug war, dümpelte ein Lastkahn auf den Wellen, dreißig oder vierzig Meter lang, flach, schwarz gestrichen. Der Aufbau am Heck – Ruderhaus und Kajüten – trug einen dunkelroten Anstrich. Vorn am Bug, am schwarzen Kiel, nur Zentimeter über der Wasserlinie, stand in dunkelroten Lettern MADELEINE. Auf der ganzen Länge des Kahns waren hinter der niedrigen Reling Fässer und Kisten gestapelt und festgezurrt; mehrere Männer standen hinter dem Frachtgut und spähten zum Ufer herüber. Einer hielt ein Fernglas in den Händen und rief irgend etwas, und aus dem Ruderhaus trat ein kleiner, dunkelgekleideter Mann mit zerzausten Haaren und langem Vollbart.
    Ein Zwerg, dachte Gulf. König Alberich, zurückgekehrt, um den Schatz der Nibelungen aus den Tiefen des Rheins zu bergen.
    Der Zwerg gestikulierte, und am Ufer, hinter den knorrigen, schiefen Stämmen der Trauerweiden, tauchten plötzlich zwei Männer auf. Untersetzte, kräftige Gestalten mit Bärten und Wollmützen, in dünnen, zerschlissenen Pullovern und groben Cordhosen.
    »Keine Sorge«, sagte Carmichael. »Es sind gute Freunde.«
    Er schob die automatische Pistole in den Gürtel und ging auf die Fremden zu. Ihre Blicke huschten von dem Agenten zu Gulf, und Gulf glaubte, kaum verhohlene Ablehnung in ihnen zu lesen. Er lächelte dünn. Er hatte sich an diese Blicke gewöhnt. Sie kümmerten ihn nicht; nicht mehr. Er war der Mann, zu dem die Toten sprachen – kein Wunder, daß ihm andere Menschen mit Mißtrauen, Furcht, sogar Haß begegneten. Vielleicht suchten sie nach einem Zeichen von Elizabeths Wirken, nach dem Schatten eines Gespenstes, aber die Stimmen der Nacht waren im Dom zurückgeblieben und Elizabeth schwieg.
    Carmichael redete auf die beiden Männer ein; er sprach Französisch. Madeleine, dachte Gulf. Ein französisches Schiff.
    Auf dem Kahn schwenkte jemand eine Signalflagge.
    »Kommen Sie, Gulf«, rief ihm Carmichael zu. »Die Madeleine bringt uns nach Rotterdam. Kapitän Fouchet und seine Leute arbeiten schon seit Jahren für uns. Sie kennen die Strecke; sie pendeln ständig zwischen den Weinbaugebieten im Rheingau und Rotterdam hin und her. Die Winzerfürsten von Eltville, Rüdesheim und Aßmannshausen verkaufen den Großteil ihrer Weine nach Übersee, und Leute wie Fouchet übernehmen den Transport zum Hafen und bringen auf dem Rückweg so heißbegehrte Waren wie Coca Cola und schottischen Whisky mit …«
    Ein Ruf unterbrach ihn. Fouchets Männer zogen ein Boot unter den ausladenden Ästen der Trauerweiden hervor und winkten ihnen ungeduldig zu. Sie kletterten hinein, die Ruder tauchten ins Wasser, und das Boot entfernte sich langsam vom Ufer. Bald mußten sich Fouchets Männer mit aller Kraft dem Druck der Strömung entgegenstemmen, um nicht zu weit von der Madeleine abgetrieben zu werden. Drüben auf dem Lastkahn erwachte tuckernd ein Motor zum Leben und übertönte bald mit lautem Dröhnen das ferne Grollen und Donnern der Explosionen. Die Männer hinter den Kisten hielten jetzt Waffen in den Händen. Sie gestikulierten aufgeregt, riefen irgend etwas, Wortfetzen, die unverständlich

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