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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Runendolch schärft, an seinem Schwanz, der hart wie Kruppstahl ist. Und die vielen süßen kleinen Adolfs und Evas, die Judenvergasen und Russenvergraben und Amisschlachten spielen … Die Herrenmenschen ziehen fort aus Sao Paulo und die Latinos nisten sich ein. Die Trabantenstädte zerfallen, das Pflaster bricht auf und enthüllt die großen Gräber, die Massengräber. Der Tod wohnt heutzutage auf den Straßen. Nur des Nachts kommt er in die Häuser, und er riecht nach Sauerkraut, nach Wurst und Gas. Und wenn die ODESSA geht, kommt der Macumba-Kult. Hör den Macumba-Kult!«
    Gulf hörte kehligen Gesang, Trommelschläge, rhythmisches Händeklatschen, aber er verstand die Worte nicht, und die Melodie bedeutete ihm nichts, und empört schrie er: »Wie? Was? Hottentottenmusik? Niggergejaule? Und das hier im Führerland? Warum werden hier keine anständigen Lieder gesungen? Hundsfott! Jude! Freimaurer! Sie sollen anständige Lieder singen, sage ich, gutes deutsches Liedgut für gute deutsche Volksgenossen. Das Horst-Wessel-Lied! Wir wollen gegen Engeland fahren! Es grollt ein Ruf wie Donnerhall! Und dann die schönste aller Weisen, die das Herz eines jeden Landsers rührt: Lili Marleen. Sag«, flüsterte er mit feuchten Augen, »haben wir uns nicht gesehen, unter der Laterne, unter den vielen Laternen, den Galgenbäumen in der Berliner Wilhelmstraße?«
    Aber draußen heulten sie nur Tod! Tod! Tod!
    »Was tun wir?« fragte er ängstlich. »Wo geht es hin?«
    »Laßt uns rechnen«, schlug der Mann mit der Waffe in der Hand vor. Er tauschte seine Waffe gegen ein zerlesenes Buch. »Laßt uns sehen, wie gut wir im Kopfrechnen sind. Laßt uns schauen, ob eine brave deutsche Seele in unserer Brust wohnt. Der Unterhalt eines Geisteskranken kostet den Staat im Durchschnitt 766 Reichsmark pro Jahr. Taube und Blinde kosten 616 und Krüppel 600 Reichsmark. In den geschlossenen Anstalten des Reichs befinden sich 167.000 Geisteskranke. 8.300 Taube und Blinde und 20.600 Krüppel. Und jetzt aufgepaßt: Wieviel erbgesunde deutsche Familien könnten bei 60 Reichsmark durchschnittlicher Monatsmiete für die Summe der jährlichen Anstaltskosten untergebracht werden? Na, na?«
    Gulf lachte. »Das ist einfach!«
    »Also, also?«
    »Exakt zweihunderteintausendsiebenhundertneunundfünfzig rassisch reine Germanensippen.«
    »Ausgezeichnet! Sie sollten sich auf der Wewelsburg melden, südlich von Paderborn, in Himmlers Zentrum der Germanenforschung.«
    Der Tag ging und die Nacht kam. Der Mann mit der Waffe in der Hand grinste breit übers Gesicht.
    Sein Gesicht war schwarz.
    Kohlrabenschwarz.
    Komischer Vogel, dachte Gulf stirnrunzelnd. Sieht so ein Arier aus? Tod und Teufel, sieht so ein blonder, blauäugiger Arier aus? Sind diese Arier alle von der südlichen Sonne geschwärzt worden? Schwarzgebrannt wie Judenfleisch aus Bergen-Belsen? Und da war wieder dieser heiße Zorn, und er schrie: »Sieht so ein Arier aus? Sind das die germanischen Herrenmenschen, auf die wir alle gewartet haben, tausend Jahre lang gewartet haben, nur damit wir mit einem verniggerten und verjudeten schwarzen Bastard abgespeist werden? Ist das alles, was Lebensborn dem Führer geschenkt hat? Ist das alles? Holt Höß! Ruft Eichmann! Schafft Himmler her!«
    Aber Höß und Eichmann und Himmler kamen nicht, und der schwarze Mann grinste und zeigte sein weißes Raubtiergebiß. Irgendwann erschien der dicke Mann. Der dicke weiße Mann mit der Hornbrille auf der Nase, in seinem schlecht sitzenden braunen Anzug und mit der kleinen schwarzen Ledertasche in der Hand, dem er schon auf dem Flughafen von Rotterdam begegnet war.
    »Ha!« rief Gulf vergnügt. »Dr. Morell, welche Freude! Dr. Theo Morell! Sie leben, und wir alle hielten Sie für tot.«
    »Ich bin nicht Dr. Morell«, sagte der dicke Mann pikiert, stellte die Tasche ab und setzte sich neben ihm auf die Bettkante. Gulf wollte ihm die Hand schütteln, aber er konnte seine Arme nicht bewegen, und erstaunt stellte er fest, daß er an die hölzernen Bettpfosten gefesselt war. An Armen und Beinen gefesselt. Sehr amüsant. Er kicherte. Der Dicke und der Schwarze sahen einander an, und der Dicke knurrte: »Wie lange geht das schon so?«
    »Fast zwei Tage«, sagte der Schwarze. »Diese Idioten haben ihm eine Überdosis verpaßt, und ich muß mir diesen Scheiß anhören.«
    Der Dicke nahm aus seiner Tasche eine Spritze und stach sie Gulf in den Arm. Der flüchtige Schmerz erinnerte ihn an etwas, und er kicherte wieder. Die

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