Stimmen der Nacht
der Obersalzberg sind vor wenigen Stunden zu befreiten Gebieten erklärt worden. Ein russisches Kriegsschiff hat vor der holsteinischen Küste einen südafrikanischen Frachter aufgebracht; er hatte moderne Boden-Luft-Raketen, Minen und fast zehntausend Schnellfeuergewehre und die entsprechende Munition an Bord, alles aus den argentinischen Krupp-Fabriken.«
»Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als die Küsten des Reiches zu blockieren«, knurrte Carmichael. »Um den Guerilleras den Nachschub aus Deutsch-Amerika abzuschneiden. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«
»Es ist zu spät«, sagte Laureen. »Die Informationen über das Ausmaß der Kämpfe lassen keinen anderen Schluß zu. In den letzten Jahren muß die ODESSA ungeheure Waffenmengen ins Reich geschleust haben. Die Werwölfe verfügen über lasergesteuerte Luftabwehrraketen, elektronische Radarstörsysteme, panzerbrechende Waffen, weitreichende Haubitzen. Die russische Garnison hat fast die Hälfte ihrer Kampfhubschrauber verloren, bevor die Sowjets überhaupt begriffen, was vor sich ging. Die Einheiten der Roten Armee an der russischen Westgrenze sind in Alarmbereitschaft versetzt worden. Der Kreml hat Washington informiert, daß für morgen die Landung von zwei Fallschirmjägerbataillonen in Brandenburg geplant ist, und die drei Westalliierten gleichzeitig ersucht, ebenfalls Truppen ins Reich zu entsenden.«
»Ich verstehe das nicht«, murmelte Gulf. »Ich verstehe es einfach nicht. Ich meine, selbst mit der Unterstützung Deutsch-Amerikas haben die Werwölfe keine Chance. Nicht die geringste Chance. Der Aufstand ist zum Scheitern verurteilt. Sie werden alle sterben.«
»Meinen Sie, das kümmert diese Nazis?« sagte Laureen. »Glauben Sie mir, jeder einzelne von diesen Werwölfen ist krank. Wahnsinnig. Für sie ist es die Erfüllung ihrer Wünsche, im Kampf für Führer, Volk und Vaterland zu fallen. Dem Werwolf-Orden geht es nicht um Sieg, sondern um Zerstörung, ziellose, planlose Zerstörung. Als Bormann Anfang 1945 die Partisanen-Organisation Werwolf gründete, tat er dies nicht in der Hoffnung, das Kriegsglück noch einmal zu wenden, sondern nur um der Zerstörung willen. Er wußte genau, daß der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte. Die Werwölfe sollten töten und selbst getötet werden. Menschenopfer. Barbarische Menschenopfer, und heute ist es nicht anders. Bormann, die ODESSA, die Werwölfe – sie sind alle wahnsinnig.«
Laureen holte tief Luft. »Deutsch-Amerika macht mobil. Reservisten werden einberufen, Soldaten aus dem Urlaub zurückbeordert, Vorbereitungen für die Umstellung der Wirtschaft auf Kriegsproduktion getroffen.«
»Krieg?« sagte Gulf. »Glauben Sie wirklich, daß es Krieg geben wird?«
»Vielleicht. Alles ist möglich. Ich sagte schon, die Nazis sind verrückt. Ihnen ist alles zuzutrauen. Sogar, daß sie einen Weltkrieg anzetteln, um nach Köln pilgern zu können. Um im Dom die Stimme ihres Führers zu hören.«
»Aber Hitler ist nicht mehr in Köln.«
»Die Latinodeutschen wissen das nicht«, erinnerte Laureen. Sie schüttelte ihr weißes, schulterlanges Haar. »Und für uns alle ist es besser, wenn es noch eine Weile so bleibt.«
Schweigen. Die schwere Limousine schoß durch die Nacht, dem Flughafen entgegen. Gulf erwartete halb, daß Elizabeth das Schweigen nutzen und ihre Stimme erheben würde, aber Elizabeth sagte nichts. Hitler, Göring, Goebbels, Heydrich, Rosenberg – keiner sprach. Vielleicht waren die Gespenster auf der Madeleine zurückgeblieben. Oder sie hatten ihn verlassen und gingen ihre eigenen Wege, jetzt, wo die Grenzen des alten Reiches hinter ihnen lagen. Vielleicht brauchten sie ihn nicht mehr. Vielleicht war er frei von ihnen.
Frei …
Aber Elizabeth, dachte er. Elizabeth wird bei mir bleiben, auch wenn die anderen gehen. Sie wird mich nie verlassen. Sie hat den Tod besiegt, und sie wird nicht erlauben, daß das Leben uns trennt.
Nach einer Weile fragte er: »Was geschieht nach unserer Ankunft in den Staaten?«
»Kennedy hat den Nationalen Sicherheitsrat zusammengerufen«, antwortete Laureen. »Sie werden an der Sitzung teilnehmen und dem Rat Bericht erstatten. Möglicherweise bringt man Sie aber direkt ins Hauptquartier der CIA. Falls sich die Gespenster wieder melden sollten, glaube ich nicht, daß man Sie ins Weiße Haus läßt. Schließlich weiß niemand, was geschieht, wenn Morgenthau und Hitler aufeinandertreffen.«
»Der Flughafen«, unterbrach der Fahrer. »Wir sind gleich
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