Stimmen der Nacht
zurück und stach ihm eine Spritze in den Arm, und die Schatten wanderten über den Beton, und durch die Ritzen der Bretter vor dem Fenster krochen der Gestank und der Schmutz und der Lärm ins Zimmer, raunten Wir töten dich, und die Schatten wanderten und wanderten …
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»Zum
ersten Mal
sah ich
den Rhein,
als wir
an seinen
stillen Wellen entlang dem Westen entgegenfuhren, um ihn, den deutschen Strom der Ströme, zu schirmen vor der Habgier des alten Feindes. Als durch den zarten Schleier des Frühnebels die milden Strahlen der ersten Sonne das Niederwalddenkmal auf uns herabschimmern ließen, da brauste aus dem endlos langen Transportzuge die alte Wacht am Rhein hinaus, und mir wollte die Brust zu enge werden. Und dann kommt eine feuchte, kalte Nacht in Flandern, durch die wir schweigend marschieren, und als der Tag sich dann aus den Nebeln zu lösen beginnt, da zischt plötzlich ein eiserner Gruß über unsere Köpfe uns entgegen und schlägt in scharfem Knall die kleinen Kugeln zwischen unsere Reihen, den nassen Boden aufpeitschend; ehe aber die kleine Wolke sich noch verzogen, dröhnt aus zweihundert Kehlen dem ersten Boten des Todes das erste Hurra entgegen. Dann aber begann es zu knattern und zu dröhnen, zu singen und zu heulen, und mit fiebrigen Augen zog es nun jeden nach vorne, immer schneller, bis plötzlich über Rübenfelder und Hecken hinweg der Kampf einsetzte, der Kampf Mann gegen Mann. Aus der Ferne aber drangen die Klänge eines Liedes an unser Ohr und kamen immer näher und näher, sprangen über von Kompanie zu Kompanie, und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, da erreichte das Lied auch uns, und wir gaben es nun wieder weiter: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt …«
Aber Deutschland ist tot, dachte Gulf, tot wie du.
Er fröstelte in der Morgenluft, deren Kühle ihn an jenen Morgen im alten Reich erinnerte, als die Werwölfe den französischen Militärkonvoi angegriffen hatten, kurz nach Sonnenaufgang und aus der gespenstischen Blässe des Nebels heraus, während der deutsche Strom der Ströme träge rauschte und man nicht wußte, ob es sein feuchter Atem war, der die Alte Rheinstraße näßte, oder der Morgenthau. Und dann der eiserne Gruß der Kugeln und Granaten und die Soldaten, die auf der Straße starben, so wie Menschen immer sterben: wie frische, grüne Zweige, von gedankenloser Hand geknickt.
Gulf hob den Kopf dem grauen Himmel entgegen, der sich soeben am Horizont unter der Berührung der aufgehenden Sonne verfärbte. Dunst stieg von den Wäldern auf, dem Meer der mächtigen Bäume, der wuchernden, fleischigen Vegetation, wo Fäulnis zu Fruchtbarkeit wurde und der Tod neues Leben gebar.
Dieser Wald hatte nichts mit der zwielichtigen, unnahbaren Gruft des deutschen Waldes zu tun, in dem Werwölfe hausten und alte Weiber Tränke aus Bilsenkraut und Fliegenpilz brauten, um die Gedanken ihrer Ahnen zu denken. Dieser Wald hier gehörte dem Macumba-Kult und seinen schwarzen Riten, den Indios und den Kopfjägern der ODESSA.
Die Stimme sprach wieder. Zornerfüllt flüsterte sie: »Es war alles umsonst gewesen. Umsonst all die Opfer und Entbehrungen, umsonst der Hunger und Durst von manchmal endlosen Monaten, vergeblich die Stunden, in denen wir, von Todesangst umkrallt, dennoch unsere Pflicht taten, und vergeblich der Tod von Millionen, die dabei starben …«
Es war der Klang der Stimme, der ihn schaudern ließ, nicht ihre Worte, denn die Worte waren unwichtig, bloße Echos aus der Vergangenheit. Noch im Tode besaß sie die alte Gabe der Verführung, jene außergewöhnliche, zweieinhalb Oktaven umfassende Modulationsfähigkeit, die es ihr erlaubte, mühelos von der normalen, zwischen 160 und 170 Hertz liegenden Tonlage zu den Bereichen zwischen 200 und 300 Hertz zu wechseln. Diese Gabe wirkte wie ein hypnotischer Zauber, mit dem sich die logischen Denkfunktionen der Großhirnrinde hemmen und die Gefühlszentren des Hirnstammes aktivieren ließen.
Und er hatte diese Gabe mit Bedacht genutzt, wenn es galt, die Wahrheit zu fälschen, die Geschichte zu verdrehen, Verbrechen zu rechtfertigen und die Massen in Rausch und Raserei zu versetzen. Und jetzt, nach einem halben Jahrhundert erzwungenen Schweigens, sprach diese Stimme im deutsch-amerikanischen Morgen, aasiges Geschwätz, von Fäulnis durchsetzt.
Doch was, fragte sich Gulf, während er den langsamen Aufstieg der Sonne über den dampfenden Regenwald verfolgte, was hat er
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