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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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nicht«, stieß er hervor. »Ich will nicht. Laßt mich. Nicht deportieren, nicht in den Osten deportieren! Nehmt einen anderen. Um Gottes willen, nehmt irgendeinen anderen, aber nicht mich! Nehmt Goldberg, nehmt Gabriel Goldberg, ihr Hurensöhne. Goldberg ist Jude. Schickt diesen Juden zum Entlausen in die Duschräume und nicht mich!« Und dann kam die Wut, die heiße, wahnsinnige, unmenschliche Wut, und er knirschte in seiner Raserei mit den Zähnen und kreischte: »Nehmt die anderen, ihr Hurensöhne, nehmt die anderen und laßt mich gehen. Nehmt die sechs Millionen Juden, und wenn das nicht genügt, dann nehmt die hundert Millionen Slawen westlich des Urals, und wenn das nicht genügt, dann nehmt die vierhundert Millionen Afrikaner, und wenn das nicht genügt, dann nehmt die tausend Millionen Chinesen, und wenn das nicht genügt, dann nehmt die ganze Menschheit und schafft sie in den Osten, zum Entlausen nach Bergen-Belsen, nehmt alle sechs Milliarden Menschen und deportiert sie nach Dachau und Treblinka, aber laßt mich leben, laßt mich um Gottes willen leben …!«
    Die Schatten wanderten, das Licht war rot vom Blut der Gefolterten, die Luft war erfüllt von ihren Schreien, die aus dem Abgrund der Zeit heraufstiegen, aus den Gestapo-Kellern und KZ-Baracken, wo SS-Ärzte ihren jüdischen Patienten Spritzen mit Gelbfiebererregern, Cholera, Wundstarrkrampf und Pocken gaben. Die nackte Glühbirne stach Lichtpfeile in seine Augen, und er mußte die Augen schließen, damit sie nicht verbrannten, so wie Elizabeth verbrannt war, aber das Licht stach weiter und er fragte heiser: »Warum ist hier kein Lampenschirm? Aus Menschenhaut, aus Judenhaut? Sind denn alle verbrannt? Ist denn keiner mehr übrig, um den Feuertod zu sterben, ohne wirklich zu sterben, um gehäutet zu werden und dennoch weiterzuleben, um das Gas zu atmen und trotzdem zu reden, immer und immer zu reden, Tag und Nacht ohne Unterlaß, und niemals zu schweigen, niemals zu schweigen, niemals …«
    »Jakob?« sagte jemand.
    Er hielt die Augen geschlossen.
    »Jakob!«
    Und er sah in Frauenaugen, in rotbraune Frauenaugen unter weißem Haar. Er kannte dieses Gesicht.
    »Elizabeth?«
    »Laßt uns allein«, befahl der rote Mund unter den rotbraunen Augen, und der schwarze Mann ging hinaus, und die weißen Hände der Frau lösten seine Fesseln.
    »Du lebst, Elizabeth«, flüsterte er. »Du bist zu mir zurückgekehrt …«
    Sie verschloß ihm den Mund mit ihrem Mund und streichelte ihn, während die Schatten wanderten. Nach all den Jahren, dachte er glücklich. Ihr Haar war in diesen Jahren weiß geworden, und sie öffnete auf ganz andere Weise für ihn den Schoß, als sie es früher getan hatte, und ihre Atemzüge hatten einen anderen Rhythmus, ihr Seufzen klang heller, ihr Stöhnen klang fremd. Und sie stellte ihm Fragen, während sie sich liebten, Fragen, auf die er keine Antworten fand.
    »Was ist wirklich geschehen im Dom zu Köln?« fragte Elizabeth. »Und warum schweigen die Stimmen jetzt? Warum sprechen sie nicht mehr? Hat es sie wirklich gegeben, Jakob, hast du sie wirklich gehört? Und wenn du sie gehört hast – sind sie dir tatsächlich auf die Madeleine gefolgt, oder habt ihr es nur so dahergesagt, du und Carmichael? Und wenn ihr gelogen habt, aus welchem Grund? Kennst du das Geheimnis der Stimmen der Nacht? Bist du eingeweiht? Erzähl mir alles, Jakob, erzähl mir alles, was du weißt. Nur mir, mir allein.«
    Sie wartete auf seine Antwort, und als er ihr in die Augen sah, bemerkte er zum ersten Mal, daß ihre Augen nicht den richtigen Farbton hatten, und auch mit ihrem Gesicht stimmte etwas nicht, als hätten sich ihre Züge verschoben … Alles war falsch, alles war auf schreckliche Weise verkehrt.
    »Wer bist du?« fragte er.
    »Ich bin Elizabeth.«
    Doch sie log. Sie log. Und er haßte ihre Lügen. Und weil er ihre Lügen haßte, haßte er auch sie. Er legte seine Hände um ihren Hals und drückte zu, drückte immer kräftiger, bis ihre Augen groß wurden, bis ihre falschen Augen aus den Höhlen traten und ihr Gesicht sich verfärbte, bis Speichel über ihr Kinn tropfte, während die Schatten wanderten. Sie gurgelte, und es war ein grausiger Laut, so grausig, daß er zu schreien begann, gellend zu schreien begann, um ihr furchtbares Gurgeln nicht mehr hören zu müssen. Er schrie und schrie, und dann war der schwarze Mann wieder da und die falsche Elizabeth war fort, und man schlug ihn und man fesselte ihn, und irgendwann kam auch Dr. Morell

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