Stimmen der Nacht
stützten ihn kräftige Hände.
»Können wir Ihnen helfen?« fragte ein dunkelhäutiger, schwarzhaariger Mann in Stewarduniform. Und sein Begleiter, der dicke Mann mit der Arzttasche, den er soeben noch neben Carmichael gesehen hatte, fügte freundlich hinzu: »Ich bin Arzt.«
»Sehr freundlich von ihnen«, lächelte Laureen. »Mein Mann hat einen kleinen Schwächeanfall. Wenn Sie mir helfen würden, ihn ins Flugzeug zu bringen, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
Sie lächelte, und der dunkelhäutige, hilfsbereite Steward lächelte ebenfalls, genau wie der dicke Doktor, und Gulf war innerlich ganz taub, hölzern, ohne Willenskraft. Eine Droge! dachte er. Laureen … sie hat mir eine Droge injiziert … Aber der Gedanke war nicht beunruhigend. Es spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle.
»Zum Glück haben wir dieselbe Maschine«, erklärte der Steward, und ein paar Schritte weiter lagen Carmichael und die schwarzhaarige CIA-Agentin leblos auf dem Boden, und von irgendwo drang Geschrei, aber es war unwichtig.
»Wie geht es dir?« fragte ihn Laureen.
Er sagte nichts.
Sie küßte ihn auf die Wange. »Wir steigen jetzt ins Flugzeug. Komm!«
Willig folgte er dem sanften Druck ihrer Hand. An seiner anderen Seite ging der dicke Doktor und hinter ihnen der freundliche Steward, und da schienen auch noch andere Männer zu sein, aber es spielte keine Rolle. Dann waren sie durch die Tür und draußen im Freien, stiegen in einen wartenden Kleinbus und fuhren der Maschine auf dem Rollfeld entgegen.
Ein Name stand am weißen, mächtigen Rumpf des Flugzeugs. Die Buchstaben flimmerten vor Gulfs Augen, und erst, als sie die Maschine erreicht hatten, konnte er die Schrift entziffern.
Lufthansa.
Aber es war nicht wichtig.
Nichts war wichtig.
Nichts.
10
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Hier roch es
nach Slum,
hier herrschte
der Geruch.
Es war ein
ganz verdorbener, unverwechselbarer Geruch, der nichts mit den erlesenen Düften und Aromen zu tun hatte, die den Reichen in den Feriengebieten von Vina del Mar, Punta del Este oder Mar del Plata schmeichelten.
Diesen Geruch kannte man in den cantegrilas von Uruguay ebenso wie in den mexikanischen jacales; man traf ihn in den conventillos im Süden, in den casas de vecindad im Norden und in den cortijos von Brasilien, überall in den Latinogettos von Deutsch-Amerika. Dieser Geruch war roh, beißend, grausam, der Geruch von Unzufriedenheit, Gewalt und Haß.
Ich töte, drohte der Geruch. Er wohnte im Dreck, und auch der Dreck war allgegenwärtig. Er überzog den Himmel, die Hütten, die Gossen, die Menschen, die Tiere. Töten wir, sagten der Geruch und der Dreck, und der Lärm fügte hinzu: Ich bin dabei. Denn der Lärm war in den Elendsvierteln an den Rändern der großen Städte ein ebenso hartnäckiger Gast wie der Geruch und der Schmutz.
Das Fenster, das einzige Fenster des Zimmers, in dem Gulf auf einer harten Pritsche lag, war mit Brettern vernagelt. Durch die Ritzen zwischen den Brettern sickerten der Gestank, der Schmutz, der Lärm. Wir töten dich, sagten sie mit grausamer Ehrlichkeit, und er antwortete: Laßt mich allein.
Eine nackte Glühbirne verbreitete trübe flackerndes Licht. Der Boden: staubiger Beton. Die Wände: feuchter Beton. Die Decke: grauer Beton.
Gulf knirschte mit den Zähnen, als er an den Beton dachte und an das, was man ihm angetan hatte, ausgerechnet ihm, und außer sich vor Wut brüllte er: »Ihr Hurensöhne, ihr arischen Hurensöhne! Ihr habt mich einbetoniert, einfach einbetoniert, und niemand unternimmt etwas dagegen. Niemand! Es ist abscheulich. Das Amt für Schönheit der Arbeit hat glatt versagt! Wer hat schon je etwas von Kraft durch Beton gehört, frage ich, wer? Die Wohnraumschlacht geht verloren, und niemand fühlt sich verantwortlich. Haben denn all die braven Volksgenossen auf ihren Sonntagsbraten verzichtet und sich mit Eintopf begnügt, damit uns die Baumeister in Beton einsargen? Wo ist Speer? Wo ist Albert Speer? Bringt mich zu ihm oder bringt ihn her. Gebt mir Kraft durch Freude und macht mich nicht schwach durch nackten Beton …«
Aber der Mann mit der Waffe in der Hand lachte nur. Er lachte und raunte Gulf mit heiserer Stimme zu: »Fort, fort, mein Schatz, schon seit Jahren sind sie fort. All die Blondschöpfe und Blauaugen vom Herrenvolk – alle fort. Geh in das Deutsche Viertel, und du wirst sie sehen. Gretchen mit den goldenen Zöpfen und den rosigen Wangen, mit dem Mutterkreuz am wogenden Busen und dem fruchtbaren Schoß. Fritz, der seinen
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