Stimmen der Nacht
getan in all diesen Jahren, in der Finsternis des Todes, nur erhellt von den Erinnerungen, die sich mahlend im Kreis drehten? Was hat er getan? Ist er allein gewesen wie Elizabeth, allein mit sich und dem Wahnsinn? Oder hat er die unsichtbaren Barrieren durchbrochen? Ist er umhergeirrt in den Bereichen jenseits der Schöpfung, auf der Suche nach Gespenstern wie er selbst, um mit ihnen Worte zu wechseln, die tausendmal gesagt, Sätze zu tauschen, die sich ewig wiederholen …?
Vielleicht war es so.
Vielleicht hatte er in der Region ohne Raum und Zeit mit seinem Mentor und Verehrer Dietrich Eckart zusammengehockt, wie in den frühen zwanziger Jahren, und mit ihm über den Bolschewismus von Moses bis Lenin schwadroniert. Hatte sich daran ergötzt, mit blinden, toten Augen und lüsterner Gier in die Welt der Lebenden zu starren, in die Lichtspielhäuser von Germania und Sao Paulo, wo seit Jahr und Tag Leni Riefenstahls Hommage an das braune Jahrtausend gezeigt wurde, Der Kampf bleibt, olympische Bilder, untermalt vom nibelungentreuen Kommentar Ernst Jüngers … Wenn dies so war, so mußte er sich wohlgefühlt haben im Kreis der Alten Kämpfer und ihrer arischen Kinder, die ganz besoffen wurden von Wagners Musik, dem Anblick marschierender SA und SS und den Donnerschlägen, mit denen sich die Stahlgewitter an den Fronten entluden.
Und wie um eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen, wälzte sich Donner vom Himmel herab und vergrollte in den dunklen Tiefen des Dschungels.
Gulf legte den Kopf in den Nacken und beobachtete den Flugzeugpulk, der Richtung Norden zog, und einen Moment lang glaubte er, die Hakenkreuze an den Unterseiten der Tragflächen zu erkennen.
Nach Norden, dachte er, und er erinnerte sich an Goldbergs Prophezeiung, daß die Nazis niemals Ruhe geben würden, daß sie nie mit dem zufrieden waren, was sie hatten, und daß all ihr Sinnen und Trachten darauf ausgerichtet war, noch mehr Länder zu rauben, noch mehr Städte zu zerstören, noch mehr Gaskammern zu bauen und noch mehr Menschen zu töten, bis die ganze Welt ein einziger Friedhof war.
Er erinnerte sich an Elizabeths Worte, daß die Latinodeutschen genug Bomben und Interkontinentalraketen, genug Giftgas und biologische Waffen besaßen, um die Erde zehnmal zu entvölkern, und er erinnerte sich an Bormann und an das, was er seit Jahrzehnten androhte: Das Reich zu befreien, Berlin wiederaufzubauen und als Nachfolger des Führers in der Reichskanzlei zu herrschen, und sollte dafür der gesamte Planet in Flammen aufgehen.
»Nun«, sagte der Commandante, »das wäre es wohl.«
Er sprach Englisch mit einem kaum merklichen spanischen Akzent, und als Gulf sich umdrehte und den kleinen, dünnen Mann mit dem fast kahlen Schädel und der randlosen Brille betrachtete, gemahnte Francisco Morello mehr denn je an einen mürrischen, früh gealterten Buchhalter. Aber Morello war Chef der Falange, der faschistischen Latino-Milizen, die in jahrelangen Kämpfen in ganz Deutsch-Amerika die linken Guerilla-Bewegungen und die Indios liquidiert hatten. Gulf wußte, daß Morello in den fünfziger Jahren, noch mit Unterstützung der CIA, die Revolution auf Kuba niedergeschlagen und Batistas Herrschaft über die Zuckerinsel gesichert hatte.
Morellos Falange hatte Fidel Castro und Che Guevara im bolivianischen Dschungel aufgespürt, Castro erschossen und Guevara nach Feuerland deportiert, in die KZs an der südlichsten Spitze Deutsch-Amerikas, aus denen schließlich, mit den Fortschritten der medizinischen Technik, Organbanken für Bormann und die anderen Nazi-Führer geworden waren.
Das war es, was Hitler und Bormann voneinander unterschied:
Beide waren krank an Herz und Verstand, aber Hitlers Wahnsinn war zerstörerisch, kompromißlos, ein in sich geschlossenes, erstarrtes System, während Martin Bormann auf seine verdrehte und düstere Weise rational und logisch dachte. Hitler war Ideologe, Bormann Bürokrat. Deshalb ließ der Reichsleiter und ehemalige Sekretär des Führers die KZ-Häftlinge nicht vergasen und verbrennen, sondern ihnen die beste Pflege angedeihen, bis irgendein ODESSA-Offizier, ein Alter Kämpfer oder ein Gauleiter der NSDAP/DA eine neue Leber, eine neue Niere, ein neues Auge benötigte. Was früher als Ganzes vernichtet worden war, wurde heute stückweise verpflanzt.
Möglicherweise trug auch Morello ein fremdes Organ in seinem Körper. Möglicherweise lebte er nur noch, weil er sich in regelmäßigen Abständen einer
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