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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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einer ruckartigen Hebung das Kopfes, einer schnellen Drehung des Halses, wie ein verschrecktes Tier, das einen Raubvogel zwischen den Wolken vermutet. Währenddessen ging Morello weiter auf und ab, ohne Laureen oder Gulf oder die Männer am Wagen zu beachten, vertieft in die Düsternis der eigenen Gedanken.
    Wie eine Vogelscheuche, durch magische Rituale zum Leben erweckt, schritt Morello hierhin und dorthin, ein Stück die Straße hinunter, wieder zurück und wieder hinunter, ruhelos und ohne Ziel, dabei Satzfetzen ausspuckend, unverständliche spanische Brocken. Plötzlich fuhr er herum und schrie die beiden Männer am Mercedes an, beschimpfte sie, fluchte, um dann abrupt zu verstummen und, mürrischer als zuvor, seine ziellose Wanderung wieder aufzunehmen und die Straße zu beobachten, die sich asphaltgrau im Dschungel verlor.
    Gewöhnlich rollte ein endloser Strom von Fahrzeugen in beide Richtungen, aber jetzt war die Transamazonica leer.
    Irgend etwas stimmt nicht, dachte Gulf.
    »Sie haben es getan«, sagte Morello unvermittelt. »Es ist verrückt, völlig verrückt, aber sie haben es getan!« Er sprach jetzt Englisch, obwohl es nicht schien, daß seine Worte an Gulf gerichtet waren. »Ich habe sie gewarnt. Ich habe diese verfluchten deutschen Bastarde gewarnt, und Bormann hat mir zugestimmt, und ich dachte, er hätte es verstanden, wirklich verstanden, und diesen Plan fallengelassen, aber er ist nur verrückter geworden, immer verrückter. Jahrein, jahraus im Fels begraben – wer kann da schon bei Verstand bleiben? Wer? Wenn er jemals bei Verstand war … Manchmal schien er so vernünftig, so nüchtern, doch seine Taten – Irrsinn. Deutscher Irrsinn. Er hat nichts gelernt; keiner von ihnen hat etwas dazugelernt. Vierzig Jahre unbelehrbar. Was sind das für Menschen? Was sind das nur für Menschen? Eine ganze Flotte mit Atomwaffen in Marsch zu setzen …«
    Hatte er tatsächlich geglaubt, Bormann und die anderen Nazi-Führer würden von ihrem Plan abrücken, das alte Reich zurückzuerobern? Hatte er wahrhaftig geglaubt, daß die Nazis etwas wie Vernunft besaßen, menschliche Vernunft, die sie befähigte, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie war, und sich mit dem Platz zufriedenzugeben, den ihnen die Geschichte zugewiesen hatte?
    Lemminge, dachte Gulf, sie sind wie Lemminge, die zielstrebig ihrem Untergang entgegengehen und sich durch nichts und niemand davon abhalten lassen, weil der Todesinstinkt ein Teil ihrer Natur, ihres Charakters ist.
    Er öffnete den Mund, um Morello diese Dinge zu sagen, aber er schwieg, denn es war sinnlos. Morello lebte schon zu lange in der Welt der Nazis. Wenn er es selbst nicht erkannt hatte, gab es keine Möglichkeit, es ihm begreiflich zu machen.
    »Vielleicht hat es schon die ersten Gefechte gegeben«, murmelte Morello. »Die Royal Navy wird die Schiffe nicht passieren lassen. Sie wird sie weit vor der deutschen Küste stoppen und zur Umkehr auffordern, aber die Deutschen werden nicht umkehren, sondern auf die Nuklearraketen an Bord der Horst Wessel und der Robert Ley vertrauen, auf die Furcht der Alliierten vor einem Atomkrieg. Bormann ist überzeugt, daß Kennedy zurückweichen wird, aus Furcht vor einem vernichtenden Angriff auf die amerikanischen Großstädte, wenn er der Flotte den Weg nach Europa versperrt. Deshalb der Flottenaufmarsch; deshalb die Verlegung der Bombergeschwader nach Norden; deshalb die Mobilisierung. Eine Drohgebärde. Bormann droht mit dem Atomkrieg, um sein Ziel ohne Krieg zu erreichen …«
    »Er will den Krieg«, widersprach Laureen. »Er will den nuklearen Krieg, nicht das alte Reich. Er weiß, daß die Alliierten unter keinen Umständen ein neues Nazi-Deutschland zulassen werden, aber er macht trotzdem weiter. Ihm ist es gleich. Er ist ein alter Mann, und wenn er stirbt, sollen alle anderen mitsterben. Er wird tief unten in seinem Andenbunker sitzen, mit Barbie und den anderen Alten Kämpfern Kokain schnupfen und auf den Fernsehschirmen die Satellitenbilder vom Weltuntergang genießen. Er hat nichts mehr zu verlieren. Er stirbt so oder so, und in seiner Rachsucht will er alle anderen mit in den Tod ziehen.«
    »Es gibt keinen Tod mehr«, erinnerte Gulf.
    Sie starrten ihn an und schwiegen. Dann ging Morello zu den beiden Männern am Mercedes. Mit finsterem Gesicht redete er auf sie ein, und mit ebenso finsteren Mienen antworteten sie. Gulf beobachtete die Straße, aber sie blieb leer.
    Und jetzt? fragte er sich. Was jetzt?
    Er erinnerte sich nur

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