Stimmen der Nacht
Frischzellenbehandlung unterzog und sich Extrakte aus der Hypophyse entlauster Neugeborener verabreichen ließ.
Aber vielleicht hatte Morello keinen Zugang mehr zu den Organ-KZs. Zwischen der von den Latinos dominierten Falange und der rein deutschen ODESSA hatte es von Anfang an Rivalitäten gegeben, die von Bormann begrüßt und gefördert worden waren. So wie einst sein Führer Partei und Staat gegeneinander ausgespielt und dafür gesorgt hatte, daß sich mögliche Konkurrenten in zeit- und kraftraubenden Kompetenzstreitigkeiten verschlissen. Teile und herrsche. Morello war Bormanns Rückversicherung für den Fall gewesen, daß Klaus Barbie, der ehrgeizige ODESSA-General, selbst nach der Macht greifen sollte.
Und während die Falange im Innern für Ruhe und Ordnung sorgte – für die tödliche Ruhe des Friedhofs und die gewalttätige Ordnung der Angst –, kümmerte sich die ODESSA um die äußeren Belange, um das alte Reich, den unerklärten Krieg gegen Israel und um den organisierten Kokainhandel. Schnee aus den Anden für die ganze Welt.
Das Bombergeschwader mit seinem Jägergeleitschutz war längst am Horizont verschwunden, aber das Dröhnen der Motoren hing noch immer in der Luft, schwer wie die süßen Parfüms, die Deutsch-Amerikas Frauen benutzten, als wollten sie damit den süßen Geruch des Blutes übertünchen, der an ihnen allen hing.
Gulf dachte an Elizabeth. Auch sie hatte diese Parfüms benutzt, Freya, Eva oder wie sie alle hießen, damals, nach ihren ersten Besuchen in Deutsch-Amerika. Und bei ihrer Rückkehr hatte sie stets eine Unze Kokain aus den NS-Koksküchen mitgebracht, die den bolivianischen und kolumbianischen Gauen einen nicht enden wollenden Strom von Dollars bescherten.
Und dann kam ihm in den Sinn, daß damit die Veränderung begonnen haben konnte; daß Elizabeth sich geirrt hatte und nicht seine, sondern ihre Seele erfroren war in der grimmen Kälte des Kokains.
Endlich verklang der Motorenlärm, aber es wurde nicht still. Aus dem Dschungel, der längs der asphaltierten Straße in ungehemmter Fruchtbarkeit wucherte und begierig zu sein schien, die Transamazonica zu überschwemmen, aus dem taubenetzten Unterholz am Straßenrand und den hohen Kronen der verfilzten Bäume drangen die Stimmen, die ihm vom Dom zu Köln nach Deutsch-Amerika gefolgt waren.
»Morgens und selbst tagsüber«, raunte Adolf Hitler aus dem Dickicht, »scheinen die willensmäßigen Kräfte der Menschen sich noch in höchster Energie gegen den Versuch der Aufzwingung eines fremden Willens und einer fremden Meinung zu sträuben. Abends dagegen unterliegen sie leichter der beherrschenden Kraft eines stärkeren Wollens …«
Und eine andere Stimme murmelte: »Wie grausam und sinnlos mutet uns dieses Schicksal an, das nicht zuließ, daß vollendet wurde, was so mutig, idealistisch, kühn und beharrlich begonnen worden war …«
Und eine dritte Stimme, die Stimme jenes aberwitzigen Geflügelzüchters Heinrich Himmler, der sich in seinem Wahn berufen gefühlt hatte, fortan Menschen zu züchten, brabbelte aus den Schatten heraus: »Für die nichtdeutsche Bevölkerung des Ostens darf es keine höhere Schule geben als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfaches Rechnen bis höchstens Fünfhundert, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam und ehrlich, fleißig und brav zu sein …«
Die Stimmen sagten noch mehr, aber Gulf hörte nicht hin. Er war müde. Nicht körperlich, sondern im Herzen, der Worte überdrüssig, dieser Irrfahrt ohne Ziel, ohne Ende.
Wieder sah er zu Morello hinüber, dann weiter nach rechts, wo der schwere Mercedes-Benz am Straßenrand stand, die Haube hochgeklappt. Zwei Männer beugten sich über den Motor und hantierten mit Werkzeugen, klopften, schraubten, fluchten.
Der eine war der Schwarze, der Gulf im Betonzimmer betreut hatte, im Neubauslum von Sao Paulo, damit er das Fieber der psychedelischen Verhördroge aus den Laboratorien der I.G. Farben überwinden konnte, sicher vor dem Zugriff der ODESSA. Der andere war der Hagere, Schnurrbärtige, der davon gesprochen hatte, ihn zur Fazenda zu schaffen, aber bis zur Fazenda war es noch weit, und sie waren mitten im brasilianischen Dschungel gestrandet.
Die Transamazonica war leer, der Asphalt dunkel vom Tau.
Laureen lehnte an der Beifahrertür und zog nervös an einer amerikanischen Zigarette. Immer wieder blickte sie zum Himmel hinauf, mit
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