Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
Vom Netzwerk:
begräbt, dann bröckeln die Mauern zwischen Diesseits und Jenseits und die Toten kehren zurück.
    Die Kaminfeuer waren heruntergebrannt, die Schatten wurden länger, und Gulf glaubte, in den Schatten menschliche Gestalten zu sehen: einen kleinen schmalen Mann mit Klumpfuß und ausgezehrtem Gesicht und einen anderen Mann mit spitzer Stirnlocke und eckigem Bärtchen, und dort einen fetten Kerl in ordenschwerer Phantasieuniform, und da einen bleichen, pausbäckigen Brillenträger … und dann hörte er Schritte von unten und dachte im ersten Moment, daß aus der Hölle selbst weitere Ungeheuer heraufstiegen, doch als er den Kopf drehte und zur Wendeltreppe blickte, war da nur ein junger blasser ODESSA-Offizier mit weit aufgerissenen Augen.
    »Die Engländer!« stieß er hervor. »Die Engländer greifen die Flotte an!«
    Es wurde totenstill. Selbst die Stimmen schwiegen. Dann, mit entstelltem Gesicht, in dem sich einen Herzschlag lang seine Seele spiegelte, sagte Martin Bormann: »Ab sofort wird zurückgeschossen …«
    »… und was sich nicht ergibt«, fügte Adolf Hitler heiser hinzu, »wird niedergemacht.«
    Bormann wandte sich an Gulf. »Kommen Sie. Der Krieg beginnt. Wir müssen hinunter in den Bunker. Kommen Sie!«
    Aber Gulf schüttelte den Kopf. In den Bunker? Mit den Gespenstern, den lebenden und den toten? Für Jahre begraben? Im Fels und im Eis?
    »Kommen Sie«, wiederholte Bormann.
    »Er will nicht«, sagte Mengele.
    »Soll er doch verbrennen«, schnaufte Barbie.
    »Kommen Sie«, drängte Bormann zum dritten Mal, wie in einem geheimnisvollen Ritual, und als Gulf wiederum den Kopf schüttelte, machte der greise Sekretär auf dem Absatz kehrt und folgte den anderen alten Männern zur Treppe.
    »Aus der deutschen Einheit«, raunte Goebbels die Stufen hinauf, »kam der deutsche Lebenswille, aus dem deutschen Lebenswillen entsprangen die deutschen Waffen, und aus den deutschen Waffen entspringt der deutsche Sieg …«
    Bormann lächelte, und ein Beben durchlief die anderen Greise, und keiner von ihnen blickte zurück, als sie die Treppe hinunterstiegen, in die Unterwelt, den Stimmen ihrer Führer folgend ins steinerne Grab der Anden.
    Dann war der Spuk vorbei.
    Gulf war allein.
    Allein mit sich und dem Flüstern, das sich nun draußen in der Nacht erhob, den tausend und tausend Stimmen, die aus allen Himmelsrichtungen heranrollten, in regelmäßigen Wogen wie die Brandung eines Meeres, das die Küste eines Felseneilands umspülte. Und während die Toten sprachen, während ihre Stimmen kamen und gingen, aus dem Tal heraufstiegen und wieder ins Tal stürzten und die Gischt aus Worten und ewigen Wiederholungen über Gulf zusammenschlug, näherte sich hoch vom Himmel das Feuer.
    Er wußte es.
    Er spürte es so deutlich, wie er Elizabeth spürte.
    »Hörst du mich, Jakob?« sagte Elizabeth. »Fühlst du mich, Jakob?«
    »Ich höre dich, ich fühle dich«, murmelte er. »Und ich sehe dich, Elizabeth.«
    Er sah sie tatsächlich, selbst durch die geschlossenen Lider. Sie trug wieder ihr golddurchwirktes Kleid wie damals in der Jubiläumsshow und die hochhackigen Schuhe, die sie größer erscheinen ließen. Ihr Gesicht war schmal und blaß, als sie lächelnd die Rampe herunterkam und die Bühne betrat, und mit ihrem Auftritt verstummten die anderen Gespenster. Die Bühne gehörte nur noch ihr und ihm. Sie trat näher, und sie roch gut: nicht nach Asche und verbranntem Fleisch, nicht nach Benzin oder den blutschweren Parfüms aus Deutsch-Amerika, sondern süß und frisch wie die Frühlingstage, die sie vor vielen Jahren an der Westküste verbracht hatten.
    »Fürchtest du dich?« fragte sie.
    Fürchtete er sich? Er horchte in sich hinein, fand aber nur Müdigkeit und Frieden und Erinnerungen: Erinnerungen an all die guten und heiteren Dinge, an das Licht und nicht an die Schatten.
    »Ich liebe dich«, sagte er, auch wenn dies nun ohne Bedeutung war, wo der Tod mit kalter Hand nach dem Erdball griff, aber es gab Worte, die gesagt werden mußten, Worte, die unabhängig von Raum und Zeit existierten. »Ich komme zu dir«, sagte er.
    Doch sie schüttelte den Kopf. »Wir bleiben nicht. Wir gehen fort. Wir beide gehen fort von hier. Jetzt. Solange noch Zeit ist.«
    Er verstand nicht, was sie meinte, aber er folgte ihr willig, als sie ihn zum Fenster zog. Die Berge draußen ragten schroff und eisig in die Nacht, der Mond war eine fahle Sichel am sternbesäten Himmel.
    Einige Sterne bewegten sich.
    Kamen näher, wurden

Weitere Kostenlose Bücher