Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
zu schicken, auf ein College so nah an Harlem. Sicherheit ist ihre Hauptsorge, und wir müssen ihnen zeigen, dass wir alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Eine Professorin, die in irgendeiner Weise gewalttätig gegen Studenten war, kann einfach kein Vorstellungsgespräch bekommen.«
Emma hatte fast den Telefonhörer fallen lassen, so groß war ihr Schock. Sie hatte den Job am Barnard College als Ehrenrettung betrachtet, als eine Stufe die akademische Leiter hinauf, von der aus sie winkend auf Joe Williams hinabschauen könnte. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie nicht einmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden würde. Aber jetzt verstand sie, warum keins derColleges, an denen sie sich beworben hatte, sie um Arbeitsproben oder Referenzen gebeten hatte. Nun denn, es war noch Zeit, sie hatte gerade erst zu suchen begonnen, vielleicht würde sich etwas ergeben. Doch dann, als Emma die Bedeutung von Lauries Worten ganz erfasst hatte, begriff sie, dass sie nie wieder einen Job als Professorin bekommen würde, ganz egal wie unbedeutend das College auch war. Sie war eine Aussätzige in der akademischen Welt.
Laurie schien das Schweigen irgendwie brechen zu wollen. »Wir suchen eine Rednerin für die Konferenz zur Geschichte der Frauen im März. Würden Sie das machen wollen?« Emma hätte gern nein gesagt, aber wenn sie in acht Monaten arbeitslos war, brauchte sie alles Geld, das sie kriegen konnte. Es war doch die reinste Ironie, dass dieselben Colleges, die ihr fünftausend Dollar für Vorträge auf Konferenzen zahlten, sie nicht an ihren Fakultäten aufnehmen wollten.
Dieser Winter war der schlimmste in Emmas Leben, als ein Ablehnungsschreiben nach dem anderen eintraf. Sie kam sich vor wie auf Studentenstatus zurückgestuft und betete um das unwahrscheinliche Vorstellungsgespräch in allerletzter Minute. Sie fühlte sich gedemütigt von ihrem Scheitern. Sie war aus dem Elfenbeinturm verbannt, und die Vorstellung, ohne Job am Holford College in Jackson zu bleiben, war die ultimative Kränkung.
Der Job in Kelly’s House war ihr wie ein Gottesgeschenk erschienen. Im März hatte Laurie Copeland sie angerufen und Emma erzählt, dass Washingtons bekanntestes Heim für misshandelte Frauen eine neue stellvertretende Leiterin suche, die Erfahrung mit dem Schreiben von Förderanträgen habe. Laurie wusste, dass Emma sich als ehrenamtliche Helferin der Hotline des Frauenheims in Jackson betätigt und dort auch im Vorstand mitgearbeitet hatte. »Es ist keine Professur«, sagte Laurie, »aber es ist eine wichtige Arbeit, und Sie könnten nach ein paar Jahren zur Heimleiterin aufsteigen.«
In Kelly’s House war Emmas traurige Berühmtheit kein Ausschlusskriterium – im Gegenteil. Im Vorstellungsgespräch mit dem Trägervorstand wurde deutlich, dass ihre Erfahrung durchaus willkommen war. Hier war eine Frau, die berühmt war dafür, sich durch eigenes Handeln aktiv gegen einen gewalttätigen Angriff geschützt zu haben. Sie unterstützten ihre Bewerbung nicht nur, sie sprachen ihr auch Anerkennung aus.
»Die amerikanische Gesellschaft hat zu große Angst vor der Wut der Frauen«, hatte die Heimleiterin zu ihr gesagt, als sie mit Emma zum Lunch ging. »Die meisten Leute meinen, dass Frauen liebenswürdig und hilfsbereit sein sollen. Sie sollen Geduld haben mit der Wut der Männer und ihre eigene unterdrücken.
Wir
wollen, dass die Frauen in der Lage sind, ihre Empörung auszudrücken und auf konstruktive Weise zur Grundlage ihrer Handlungen zu machen, wenn sie das Heim verlassen. Manchmal richten misshandelte Frauen ihre Wut gegen ihre Kinder oder auch gegen sich selbst, anstatt sie zu nutzen, um aktiv Schritte in die Unabhängigkeit zu tun – rechtliche Schritte, berufliche Schritte, Schritte weg von dem Mann, der sie misshandelt. Selbst gewalttätige Schritte sind im Namen der Selbstverteidigung manchmal notwendig.«
»Emma«, hatte sie hinzugefügt, »wenn Sie diesen Job wollen, dann haben Sie ihn.«
Emma hatte keinen Freudensprung gemacht. Aus ihren Jahren an der Hotline in Jackson wusste sie, wie einsam man durch die Arbeit in einem Heim werden konnte, denn man erfuhr die schrecklichen Geheimnisse der Menschen in der eigenen Stadt. Es schuf eine Distanz zu den anderen, wenn man die Stimme einer Bekannten in der Hotline erkannte und dann auf einer Sitzung der Fakultät einem Kollegen zuhören musste und dabei dachte:
Ich weiß, was Sie Ihrer Frau gestern Nacht angetan haben.
Aber in einer Großstadt
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