Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
Vom Netzwerk:
Überblicksseminar zur britischen Literatur gestrichen, das von ursprünglich siebenundzwanzig nur noch sechs Studenten belegen wollten. Das Seminar über Virginia Woolf, für das nur fünf von fünfzehn Studenten übrig geblieben waren, hatte man dagegen nicht gestrichen, und sie war für den Einführungskurs für die neuen Studenten eingeteilt worden   – was prompt zu einer Flut an Anrufen von Eltern geführt hatte, die ihre Kinder nicht bei Emma sehen wollten.
    Anfangs hatte Emma sich über die wenigen Einschreibungen gefreut. Kleine Seminare bedeuteten, weniger Essays zu benoten und weniger Fragen zu erdulden. Aber die Flaute bei ihr bedeutete auch mehr Arbeit für ihre Kollegen, die eine Überzahl an Studenten in ihre Seminare aufnehmen mussten. Und Emma hatte erkennen müssen, dass unter den wenigen jungen Männern, die ihr Seminar dann doch besuchten, einige reine Gaffer waren, weniger am Thema interessiert als daran, jede Woche ein paar Stunden in Gegenwart einer ortsbekannten Berühmtheit zu verbringen. Aber vielleicht war sie auch zur Fallstudie für Studenten mit Hauptfach Psychologie geworden, argwöhnte Emma.
    Im Frühjahrssemester stiegen die Teilnehmerzahlen ihrer Seminare wieder leicht an, und sie hoffte, dass nun die Einschreibungenvon Semester zu Semester weiter zunehmen würden, da alle Studenten, die Jacob gekannt hatten, ihren Abschluss machten und wegzogen. Unterdessen hatte Joe ihr in diesem Frühjahr zusätzliche Komitee-Arbeit übertragen, um dem Eindruck entgegenzuwirken, sie sei nicht mit vollem Einsatz dabei. Aber sie langweilte oder ärgerte sich nur auf den Sitzungen.
    All diese Gedanken waren ihr durch den Kopf geschwirrt, als sie im April in Joes Büro saß, über ›Villette‹ redete und ihre trüben Aussichten auf Festanstellung bedachte. Sie war mit einem Gefühl der Läuterung hinausgegangen und eine Zeit lang entschlossen gewesen, einen weiteren Aufsatz aus ihrer Doktorarbeit herauszuquetschen. Doch in den nächsten Monaten stellte sie fest, dass sie sich nicht auf Brontë konzentrieren konnte und sich alle Texte, die sie schrieb, stattdessen um das Thema »Sicherheit auf dem Campus« drehten. Mitten im Sommer hatte sie dann alle Hoffnung auf Festanstellung aufgegeben und informierte Joe Williams darüber, dass sie nach dem kommenden College-Jahr gehen werde. Sie sagte, sie wolle sich einen neuen Job an einem neuen College in einer neuen Stadt suchen, und hoffte insgeheim auf ein liberaleres Klima, wo »Feministin« kein Schimpfwort war und der Tierschutzverband als eine normale Organisation galt.
    Rob, dem sein Job am Holford College gefiel, war nicht begeistert gewesen. Er bewahrte eisernes Schweigen am Frühstückstisch, als sie im Oktober anfing, Stellenanzeigen zu lesen. Der Markt war düster. In ganz Amerika entsprachen noch nicht einmal zehn Jobs Emmas Forschungsgebiet, und sie bewarb sich auf alle, sogar an einem kleinen College im Mittleren Westen, von dem sie noch nie gehört hatte. Nur ein Job schien ideal. Das Zentrum für Frauenforschung am New Yorker Barnard College suchte eine neue Leiterin, eine Professorin mit Erfahrung in Frauenthemen, die die Verwaltung des Zentrums übernehmen und stundenweise ander geisteswissenschaftlichen Fakultät unterrichten könnte. Die jetzige Leiterin, Laurie Copeland, war eine Bekannte von Emma; sie waren während der Frühjahrskonferenz des Verbands der Professorinnen mehrmals gemeinsam abendessen gegangen und korrespondierten seitdem sporadisch miteinander. Nachdem Emma ihre Bewerbung samt Lebenslauf beim Barnard College eingereicht hatte, schrieb sie Laurie eine nette E-Mail und ließ sie wissen, dass sie ihren Hut in den Ring geworfen hatte.
    Sie war überrascht, als sie auch nach zwei Wochen noch keine Antwort bekommen hatte, weder von Laurie noch vom Auswahlkomitee des Barnard Colleges. Schließlich schluckte Emma ihren Stolz hinunter und rief ihre Bekannte unter dem Vorwand eines anstehenden Besuchs in Manhattan an. Als sie nach dem Stand der Dinge fragte und ob sie Aussicht auf den ausgeschriebenen Job habe, war die Verlegenheit in Lauries Stimme für sie schmerzlich gewesen.
    »Ich finde, Sie wären ideal für diesen Job, Emma. Aber Sie müssen verstehen   – das Barnard College kann unter keinen Umständen eine Professorin einstellen, die einen Studenten getötet hat, egal ob es sich um einen Akt der Notwehr gehandelt hat oder nicht. Unsere Eltern beunruhigt es schon genug, ihre Kinder in eine Großstadt wie New York

Weitere Kostenlose Bücher