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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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kleinen Mädchens schlich.
    Jeder Satz zeugte von Übergriffen und Vergehen, die schließlich in dem Bild von Emmas Armband am Handgelenk von Kyles Freundin kulminierten. Emma erklärte, dass sie schon Wochen zuvor den Sprecher des Ehrenkomitees der Holford-Studenten angerufen hatte, um sich über Kyles Diebstähle zu beschweren, und dass sie beim Anblick ihres Armbands damit gedroht hatte, Kyle vom College werfen zu lassen. Im Rückblick war es wohl der Tag, an dem Emmas Beitrag erschien, der ihr Schicksal am Holford-College besiegelte: der Tag, an dem sie in der ›New York Times‹ kundtat, dass Mason Caldwells Sohn ein Dieb und ein Lügner war.
    Die Reaktionen auf ihren Artikel kamen rasch. Hatte der Artikel im ›Chronicle‹ Professoren zu Leserbriefen angeregt, so schrieben jetzt Highschool-Lehrer und klagten über die Atmosphäre im Klassenzimmer, die sie immer häufiger als bedrohlich erlebten. Die steigenden Leistungsanforderungen einerseits und die immer unbarmherzigeren Aufnahmekriterien der Colleges andererseits hatten Schüler und Eltern hervorgebracht, die auf schlechte Noten nicht mit mehr Fleiß reagierten, sondern Lehrer angriffen und forderten, dass diese degradiert oder gefeuert   – oder, in extremen Fällen, getötet   – werden sollten. Und das Problem war nicht allein mangelnder Respekt vor Lehrern   – es gab auch Feindseligkeiten gegen Ärzte, die nicht die geforderten Medikamente verschreiben wollten, Drohungen gegen Finanzberater, wenn der Aktienmarkt fiel, Gewalt gegen Polizisten und Politiker, so als meinten die Amerikaner, sie hätten ein Anrecht auf ein ideales Leben und sie könnten für jeden Rückschlag jemand anderen verantwortlich machen.
    Emma bekam Interviewanfragen von der ›Today Show‹, von ›Good Morning America‹ und von ›Fox News‹, aber sielehnte alles ab. Die Einladung des überregionalen Verbands der Professorinnen, der sie bat, auf seiner Frühjahrskonferenz die Eröffnungsrede zu halten, war die erste, die sie annahm. Sarah meinte, das könnte ihre Chance auf Festanstellung erhöhen.
    Während sie zwischen weiten Maisfeldern hindurchfuhr, musste Emma traurig lächeln über Sarahs Fehleinschätzung. Eine unkonventionellere Hochschule wie Berkeley oder Bennington hätte vielleicht eine neue Ikone des Feminismus auf ihrem Campus willkommen geheißen, doch das ehrwürdige Holford College schätzte den ganzen Wirbel nicht. Dort wollte man, dass die Professoren für englische Literatur für ihre Bücher über Shakespeare berühmt wurden und nicht für Aufwiegelung.
    Sie erinnerte sich noch an den Vormittag, an dem ihr Institutsleiter sie in sein Büro bat. Es war kurz nach ihrer Rede auf einer Konferenz im April, dem fünften Vortrag, den sie in diesem Frühling gehalten hatte. Noch trunken vom Applaus, den zweitausend Frauen ihr gespendet hatten, nahm Emma an, dass Joe Williams ihr gratulieren würde. Sie hatte bereits drei weitere Veranstaltungen zugesagt, zum Teil auch wegen des Geldes   – eine einzige Rede verdoppelte ihr monatliches Gehalt vom Holford College. Aber sie schätzte auch die vielen E-Mails von Frauen aus dem ganzen Land, die es richtig fanden, wie sie zum Schutz ihrer Tochter gehandelt hatte.
    Joe Williams war nicht beeindruckt gewesen. »Ich wollte mal hören, wie Sie mit der Arbeit über Charlotte Brontë vorankommen?«
    Er hatte sie noch nie nach ihrer Forschungsarbeit gefragt, und Emma brachte nur ein paar verblüffte Sätze über neue kritische Ansätze zu ›Villette‹ hervor, ehe ihr dämmerte, dass das keine Frage war, sondern vielmehr eine Warnung.
    »Ihre Festanstellung ist für das kommende College-Jahr geplant«, fuhr Joe fort, »aber es macht den Eindruck, als wären Sie vom Weg abgekommen. Sie sollten sich stärker aufIhre Forschungsarbeit und Ihre Lehrverpflichtungen konzentrieren.«
    Emma errötete, schämte sich dann deshalb, und errötete darüber nur umso tiefer. Joe spielte offenbar auf die klägliche Zahl der Einschreibungen in ihre Seminare in den letzten Semestern an. In den Jahren zuvor waren sie immer voll gewesen, aber als nach Jacobs Tod die Einschreibung für den Herbst begann, waren die Studenten, die sich für ihre Seminare bereits hatten vormerken lassen, scharenweise wieder abgesprungen. Die wenigen verbliebenen waren vor allem treue Studentinnen im dritten und vierten College-Jahr gewesen, die sie gut genug kannten, um an ihre Version des Vorfalls zu glauben. Das Institut hatte im Herbst sogar ihr

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