Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Emma erschrak, vor allem als sie Janices Angriffe auf das Holford College hörte, die darin gipfelten, dass die Verwaltung weiblichen Professoren gegenüber eine chauvinistische Haltung pflege und Emma den Löwen zum Fraß vorwerfe.
Das wird meine Chance auf Festanstellung kaum verbessern
, hatte Emma gedacht, als siean ihrem Kaffee nippend der Begeisterung in Sarahs Stimme lauschte. An Don Kresgeys Stelle hätte sie die Situation wahrscheinlich genauso gehandhabt. Er hatte den Vorfall nicht miterlebt und durfte in seiner Position nicht Partei ergreifen.
Janice porträtierte Emma als eine Art feministische Rächerin, aber Emma sah nichts Heldenhaftes in ihrer Tat. Als Jacob Stewart sich in ihr Haus hereindrängte, hatte ihn ein Malstrom von Wut erfasst, die nichts mit ihm zu tun hatte. Die Wahrheit war, es hatte gutgetan, jemanden zu schlagen, und gutgetan, Jacob fallen zu sehen. Emma hatte gegen die Welt angewütet, als dieser Baseballschläger auf seinen Kopf niederging, und sie hatte weitergewütet in den letzten neun Jahren, gegen ihren Mann, gegen Carlos Cortez, gegen die alltäglichen Sorgen und Nöte des Lebens. Sie kannte das Ausmaß ihrer Schuld ganz genau, und Heroisierung war kaum besser als Dämonisierung.
Und doch schien der Artikel einen Nerv weit über Jackson hinaus zu treffen. Binnen drei Tagen hatte der ›Chronicle‹ über zweihundert E-Mails und Briefe von Professoren erhalten, die ihre Geschichten mitteilten: eingeschlagene Autofenster, gehässige Graffiti an Bürotüren und von rachsüchtigen Hackern infiltrierte Computer. Ein paar Professoren hatten ihren Job aufgegeben, um der Kultur der allgegenwärtigen Schikane zu entgehen – und das waren keine Jobs an Colleges in sozialen Brennpunkten von Großstädten gewesen, wo man mit raubeinigeren Studenten rechnete. Oft waren an den elitärsten, privilegiertesten Universitäten die feindseligsten Studenten und Eltern anzutreffen – junge Leute, die auf ihr Recht auf gute Noten bestanden, oder Eltern, die sich über Professoren ereiferten, die die Brillanz ihrer Kinder nicht erkannten. Janices Worte wurden zum Schlachtruf von Professoren, die schwerwiegende Strafen für Studenten forderten, die Drohmails schrieben oder absichtlich das Eigentum von Professoren beschädigten. Die Campus-Verhaltensregeln sollten harte Sanktionen gegen Studentenbeinhalten, die auf schlechte Noten hin eine Rufmordkampagne gegen Professoren starteten, und alle rechtlichen Maßnahmen eines Professors zu seiner Verteidigung sollten aus der Universitätsschatulle gezahlt werden.
Gerade als das Interesse der Medien an Jacob Stewarts Tod allmählich abflaute, sorgte Janices Artikel dafür, dass Emmas Telefon wieder alle fünf Minuten klingelte. Sarah ermutigte sie, auf die Interviewanfrage des ›National Public Radio‹ einzugehen und die Chance wahrzunehmen, ihre Geschichte einem breiteren, gebildeten Publikum bekannt zu machen. Doch Emma bot stattdessen lieber der ›New York Times‹ einen Gastbeitrag an. Auf diese Weise würde sie ihre Geschichte am besten kontrollieren können, hoffte sie, und der Chefredakteur der ›Times‹ versprach ihr, dass er ihren Text nicht kürzen würde, wenn er eine bestimmte Länge nicht überschritt. Und sollte er doch irgendwelche Sätze ändern müssen, könnte Emma die Endversion noch einmal gegenlesen. Unter diesen Umständen hatte sie den ersten Absatz geschrieben:
Mein Leben hat sich unwiderruflich verändert in einer Nacht im letzten Mai, als drei Studenten uneingeladen bei meinem Haus auftauchten. Ich wohne in einer ländlichen Gegend in Virginia, acht Meilen von der nächsten Stadt entfernt, wo die Häuser von weitläufigen Wiesen und Wäldern umgeben sind und zu den Nachbarn kein Sichtkontakt besteht. In dieser Nacht im Mai war mein Ehemann nicht zu Hause, und so musste ich mich und meine fünf Jahre alte Tochter allein schützen gegen etwaige Schwierigkeiten, die diese Studenten machen könnten. Und die Schwierigkeiten ließen nicht lange auf sich warten.
Dann war Emma in ihrer Schilderung der Spur von Kyles Fingerabdrücken gefolgt: von der in ihren Garten geworfenen Bierdose bis zum Treppengeländer, als er in die Privaträume ihres Hauses vordrang, zu ihrer Schlafzimmerkommode, ihrer Spieldose, ihrem Kissen, ihrer Bettdecke. Amabscheulichsten aber waren die Fingerabdrücke auf Maggies Kommode gewesen, die das gespenstische Bild eines betrunkenen Studenten heraufbeschworen, der sich heimlich in das Zimmer eines
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