Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
zeigte den Flur entlang. »Jodie ist im Arbeitszimmer.«
Emma kannte den Weg. Sie war schon oft in diesem Haus gewesen, zu den Cocktailpartys der Fakultät und den großen Festen zu Weihnachten, und wann immer die Räume überquollen, hatte es sie in das Arbeitszimmer gezogen, da ihr die Stille der Bücher stets lieber war als der Lärm der Gäste. Kierkegaard, Nietzsche und Hannah Arendt warteten verlässlich in den oberen Reihen der Bücherregale, die von Wills früherer Karriere als Philosophieprofessor zeugten. In den letzten Jahren hatte Jodies Gehalt es ihrem Mann jedoch ermöglicht, seine Lehrtätigkeit zu reduzieren und seiner eigentlichen Leidenschaft mehr Zeit zu widmen: der Kunst des Gärtnerns. Offenbar beantwortete eine heranwachsende und schließlich aufblühende Tulpe zufriedenstellend alle Fragen zum Wesen der Wirklichkeit. Jodie hatte zu den Büchern in den Regalen kaum etwas anderes beigesteuert als ein Dutzend Bände über das Selbstwertgefühl Heranwachsender, Lernschwierigkeiten und Drogenmissbrauch. Ihrer eigenen, etwas zu oft wiederholten Einschätzung nach war Jodie »ein geselliger Mensch, kein Büchermensch«, so als würde sich beides gegenseitig ausschließen und als wollte sie unterstellen, dass all die Fakultätsbücherwürmer wie der, den sie geheiratethatte, ein verkümmertes Sozialverhalten aufwiesen. Ihr Job war es, zwischen den schwierigen Professoren und deren umgänglicheren Studenten zu vermitteln.
Als Emma das Arbeitszimmer betrat, stand Jodie von ihrem Schreibtisch auf. Sie warf kurz einen Blick auf Emmas Bluse, die ihr fast bis zu den Knien hing, bevor sie sie zu dem Ledersofa führte. »Was für ein Albtraum.« Jodie ließ sich erschöpft nieder. »Ich habe in den letzten drei Stunden über zweihundert E-Mails bekommen.«
»Von wem?«
»Eltern, Studenten und einigen hartnäckigen Reportern. Ich leite sie alle an Brent in der Presseabteilung weiter. Er hat heute Vormittag eine Erklärung herausgegeben, in der es heißt, dass ein Student gestorben ist, nachdem er bei einem Vorfall in einem Privathaus am Kopf verletzt wurde. Mehr haben wir nicht gesagt, aber die Gerüchte im Internet sind schon ziemlich übel. Es wird wild darüber spekuliert, was zwischen Ihnen und Jacob vorgefallen ist, als Sie beide allein im Haus waren.«
»Wir waren nie allein«, entgegnete Emma. »Kyle und Sandy waren im Haus, als Jacob es zum ersten Mal betrat, und als er sich später mit Gewalt wieder hereindrängte, standen sie hinter ihm auf der Veranda.«
»Nun, das Internet ist nicht gerade für seine Faktentreue bekannt. Dem Gerede der Studenten nach waren Sie und Jacob allein, als das Unglück geschah.«
»Meine Version der Geschichte wird von der Polizei bestätigt werden«, versicherte Emma. »Sie haben heute Vormittag Fingerabdrücke genommen.«
»Sehr gut. Wie schnell werden die Ergebnisse vorliegen?«
»Es wird ungefähr acht Tage dauern.«
»Acht Tage!« Jodie schnappte nach Luft. »Kann man das denn nicht sofort erledigen?«
»Nicht in dieser Stadt. Die Polizei musste alles ins kriminaltechnische Labor nach Richmond schicken, und dort gibtes Wartezeiten, weil so viel zu tun ist. Priorität haben die Fälle, in denen ein Verbrecher noch auf freiem Fuß ist. In diesem Fall besteht für niemanden Gefahr.«
»Es besteht
große
Gefahr für Ihr Ansehen. Acht Tage sind eine Ewigkeit im Cyberspace. Bis dahin kann die Sache völlig außer Kontrolle geraten sein.«
Emma zuckte die Achseln. »Den Leuten in Richmond dürfte mein Ansehen egal sein. Und ich kann nicht kontrollieren, was die Studenten im Web verbreiten. Ich glaube, es gibt genug Studenten, die mich gut kennen – die sollten in der Lage sein, die Dinge ins rechte Licht zu rücken.«
Jodie schüttelte den Kopf und sah Emma an, als wäre sie ein naives Kind. »Sie sollten wissen«, die Dekanin senkte die Stimme, »dass einige Mitglieder aus Kyles und Jacobs Studentenvereinigung hässliche Gerüchte verbreiten. Sie sagen, dass Sie eine radikale Feministin seien, die Männer nicht mag.«
»Ich
bin
Feministin. Na und? Das erzähle ich meinen Studenten immer wieder, nur um ihnen zu zeigen, wie normal Feministinnen sind. Das heißt nicht, dass ich Männer hasse. Alle wissen, dass ich verheiratet bin und viele männliche Freunde habe.«
»Ich verstehe das«, sagte Jodie. »Aber ein paar Studenten behaupten, dass Ihre Benotung immer zugunsten der Frauen ausfällt.«
Emma starrte sie an. »Hat Kyle damit angefangen? Er hatte
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