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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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»Oh meine Liebe, es tut mir so leid.« Erschöpft und übermüdet ließ Emma zu, dass die ersten Tränen des Tages an der Schulter ihrer Freundin flossen. Die beiden setzten sich aufs Sofa, und Rob ging mit Maggie nach draußen, um im Sandkasten zu spielen. Eine Weile saßen die Frauen schweigend da, Sarah mit einem Arm um Emmas Schultern. Immer wieder musste sich Emma mit einem Taschentuch die Augen abtupfen. Sarah war die Ruhe selbst und strahlte wie stets eine stille Distanziertheit aus, die ihre Wirkung auf ihre jüngere Freundin nie verfehlte.
    »Du wirkst immer so gelassen«, hatte Emma vor zwei Jahren einmal gesagt, als Sarah auf ihre Festanstellung als Professorin hinarbeitete.
    »Du hättest mich mal sehen sollen, als mein Mann starb«, hatte Sarah erwidert. »Da bin ich völlig durchgedreht   … Dagegen ist der College-Stress ein Klacks.«
    Sarah stellte keine Fragen, sondern ließ Emma die Geschichte in ihrem eigenen Tempo und auf ihre eigene Weise erzählen.
Wiederholung Nummer sechs,
dachte Emma, als sie die wichtigsten Details schilderte. Mit jeder Wiederholung wurde der Wald dunkler und Jacobs Blut roter. Ihr ganzes Leben schien sich auf eine einzige tragische Nacht zu reduzieren, und sie fragte sich, wie viele Leute dieses Phänomen der Zuspitzung schon erlebt hatten   – ein einzelner Vorfall wurde zum Kristallisationspunkt ihrer Welt, löschte alles Vorangegangene aus und verzerrte alles, was noch kam. Als sie fertig war, hatte Emma sich in einem Gewirr von Entschuldigungen verfangen. Es tat ihr leid, dass Jacob tot war, dass sie die Dinge nicht besser hatte handhaben können, dass sie so vielen Menschen so große Schwierigkeiten bereitete.
    »Oh nein«, schnitt Sarah ihr das Wort ab. »Bitte fang nicht an, dich zu entschuldigen. Sieh mich an, Emma.« Sarah ergriff die Hände ihrer Freundin und sah ihr fest in die Augen. »Es war nicht
deine
Schuld. Das muss in deinen Kopf hinein   – nichts von all dem war deine Schuld. Ich weiß, am Holford College wird gern so getan, als wären die Studenten ein Haufen Kinder und als müssten wir alle
in loco parentis
handeln. Aber diese jungen Leute sind
keine
Kinder, und es ist nicht unsere Aufgabe, auf sie aufzupassen. Jacob Stewart war ein zweiundzwanzigjähriger junger Mann, der spätabends vor deinem Haus auf dem Land aufkreuzte und sich hineindrängen wollte, obwohl du ihn deutlich aufgefordert hast zu gehen. Dein Handeln war absolut gerechtfertigt. Ich hätte das Gleiche getan.«
    Sie hielt kurz inne und sah aus dem Fenster. »Erinnerstdu dich noch, wie ich dir erzählt habe, dass ich einen der Professoren kannte, der bei dem Amoklauf an der Virginia Tech starb? Nun, er starb bei dem Versuch, eine Tür so lange vor Seung-Hui Cho zuzuhalten, bis seine Studenten aus den Fenstern geklettert waren. Und als du eben deinen Versuch beschrieben hast, die Tür vor Jacob zuzuhalten, musste ich daran denken   – dass mein Freund den Mörder zwar draußen hielt, dieser ihn dann aber durch die Tür erschoss.«
    Die beiden Frauen lehnten sich aneinander, während Sarah fortfuhr. »Erst vor zwei Wochen ist an einem College in Nebraska ein Student mit einem Gewehr aufgetaucht, weil ihm seine Note in Mathe nicht passte. Und in den letzten drei Jahren hat es mindestens drei Fälle gegeben, in denen College-Studenten Kommilitonen getötet haben. Es ist, als hätten wir es mit einer Generation junger Leute zu tun, die entweder depressiv sind oder überehrgeizig und gestresst, und sie sind zudem überfüttert mit Gewaltszenen aus dem Fernsehen und dem Internet. Die meisten entwickeln sich gut, aber man weiß nie, wozu die Schlimmsten von ihnen fähig sind. Denk nicht mal daran, dich zu entschuldigen für das, was du getan hast   – und schon gar nicht vor der Polizei oder Jodie Maus. Das könnte als ein Schuldeingeständnis gegen dich verwendet werden, und du bist
nicht
schuldig.«
    Bebend atmete Emma einmal tief durch. Sarah legte ihr wieder den Arm um die Schultern und fügte hinzu: »Wir werden das überstehen.«
    »Ich mache mir Sorgen um Maggie«, sagte Emma leise. »Sie redet nicht.«
    »Das ist verständlich«, meinte Sarah. »Vielleicht öffnet sie sich, wenn sie mit Kate spielt.«
    »Wo ist Kate im Moment?«
    »Bei meiner Freundin Margaret. Maggie kann den ganzen Tag bei uns bleiben, das weißt du, und auch übernachten, wenn du willst. Pack doch einfach eine Tasche für sie, nur für den Fall.«
    »Das wäre prima.«
    »Und was ist mit dir?«, fragte

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