Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Sarah. »Hast du vor, hier in Deckung zu gehen, bis der Sturm vorüber ist?«
»Ich soll später noch zu Jodie in die Stadt kommen, und ich will auch raus aus diesem Gästehaus. Es ist viel zu klein. Das einzige Problem ist die Reportermeute da draußen.«
Sarah dachte einen Augenblick nach. »Ich habe eine Idee.«
Zehn Minuten später ging sie hinaus und blieb zögernd in der Tür stehen, als die Presseleute auf sie zustürmten. Sie nahm ihren großen blauen Schal von den Schultern und wickelte ihn sich um Kopf und Hals wie eine Muslimin ihr Kopftuch. Die Reporter bestürmten sie mit Fragen: Würde Professor Greene herauskommen und eine Erklärung abgeben? Wusste sie, dass Jacob Stewart tot war? Sarah setzte ihre Sonnenbrille auf, ging schweigend zu ihrem Auto und holte ein Buch heraus, das sie sich vors Gesicht hielt, als sie wieder auf dem Weg zum Gästehaus war, die Reporter immer noch im Schlepptau.
Eine Frau von ›Channel 10 News‹ rief mit nasaler Stimme: »Wussten Sie, dass Professor Greene früher schon mal als psychisch labil eingestuft wurde?«
Bei dieser Bemerkung blieb Sarah abrupt stehen, senkte das Buch, schob sich den Schal aus der Stirn und setzte ihre Sonnenbrille ab. »Ich bin Professor Sarah McConnell«, sagte sie direkt in die nächste Kamera hinein, »und ich kann Ihnen mit absoluter Gewissheit versichern, dass Emma Greene die liebenswürdigste und vernünftigste Professorin am Holford College ist und dass sie völlig gerechtfertigt in einem Akt der Notwehr gehandelt hat.«
Dann setzte sie die Sonnenbrille mit einer demonstrativen Geste wieder auf und ging weiter. Doch ehe sie das Gästehaus betrat, drehte Sarah sich noch einmal um. »Emma Greene wird heute nicht herauskommen, Sie können also genauso gut gehen.«
Eine Viertelstunde später sahen die Presseleute die Tür erneut aufgehen, doch es war nur Sarah, die sich wieder das Buch vors Gesicht hielt, den Schal immer noch um den Kopf gewickelt und die Augen von der Sonnenbrille verdeckt. Sie eilte unbehelligt zu ihrem Auto und fuhr davon. Niemand bemerkte, dass sie fünf Zentimeter kleiner geworden war und dass das unter dem Schal hervorblitzende Haar auf einmal einen kupferfarbenen Schimmer hatte.
Auch in der Stadt fuhr Emma mit Schal und Sonnenbrille weiter, in der Hoffnung, so lange wie möglich unerkannt zu bleiben. Als sie bei einem Park am Shannon River anhielt, sah sie dort zwei Angler in Plastikgartenstühlen ihre Ruten einholen und auswerfen und immer mal wieder einen Schluck Bier aus Dosen nehmen, die in kleinen braunen Papiertüten steckten. Ein Jogger lief rechts an ihr vorbei, aber sonst war der Park leer, was Emma Gelegenheit bot, ein paar Minuten lang ihre Gedanken zu sammeln.
Sie stieg aus Sarahs Auto aus und ging zu der alten roten Eisenbahnbrücke, die über den Fluss führte und Teil einer historischen Schienenstrecke war, die Richtung Süden dem Shannon folgend aus Jackson hinausführte, dreiundzwanzig Meilen weit durch Wiesen und Wälder und an zwei weiteren Kleinstädten vorbei. In der Mitte der Brücke blieb sie stehen, beugte sich über das Geländer und sah in die Strömung hinab, wo eine Forelle dicht unter der Wasseroberfläche dahinschnellte und in den Schatten eines dunklen Felsens verschwand, weit weg von den Ködern der Angler. Es war beruhigend, dachte Emma, wie blind die Natur war gegen menschliche Tragödien und wie unbedeutend vor ihr alles wurde, sogar der unnatürliche Tod eines zweiundzwanzig Jahre alten Studenten. Jacob Stewart bedeutete diesem Fluss gar nichts, und auch den Felsen und Bäumen und Fischen nicht, und sie selbst spielte eine ebenso nichtige Rolle, war nur ein weiterer Schatten, der über eine Wasseroberfläche huschte.
Sie spürte den Blick des einen Anglers auf sich ruhen, und gleich fragte sie sich, ob er wohl von dem Todesfall wusste. Aus dem Radio neben ihm tönte Country-Musik, keine Nachrichten. Vermutlich machte er sich nur Sogen, dass sie die Fische vertreiben könnte, oder war erstaunt über ihre Kopfbedeckung. Mit einer raschen Handbewegung zog Emma sich den Schal vom Kopf und befreite ihr Haar, das in der Sonne leuchtete wie eine rote Flagge des Trotzes.
Ich habe nichts zu verbergen,
sagte sie sich und nickte den beiden Anglern ohne ein Lächeln zu, als sie wieder zu Sarahs Auto ging. Dann fuhr sie weiter zum College. Jodies Ehemann Will machte ihr die Tür auf und begrüßte sie mit den Worten: »Ah, Emma – was für eine furchtbare Geschichte.« Er
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