Stine
allerlei Nerven in seinen zehn Fingerspitzen und fühlt es den Menschen und Verhältnissen ab, ob sie glücklich sind oder nicht. Und mitunter sogar den Räumen, darin die Menschen wohnen. Und
hier
lehren mich meine Sinne, Sie können nicht unglücklich sein. Es ist nicht ein Zufall, daß ein solches Bild hier vor Ihnen ausgebreitet liegt, und ein Zimmer, in das die Sonne jeden Abend so freundlich blickt, das ist ein gutes Zimmer.«
»Ja«, sagte Stine, »das ist es. Freilich, man soll sich seines Glückes nicht rühmen, schon, um's nicht zu berufen. Aber es ist wahr, ich bin glücklich.«
Der junge Graf sah sie bei diesen Worten forschend und beinah verwundert von der Seite her an. Er hatte sich darin gefallen, ihr, um der freundlichen Umgebung willen, in der er sie gegen Erwarten antraf, ohne weiteres das Glück zuzusprechen, und war nun doch betroffen, sie so rundheraus das bestätigen zu hören, was er ihr selber eben gesagt hatte. Stine sah das alles und setzte deshalb hinzu: »Sie müssen nun freilich nicht denken, ich wisse vor lauter Glück nicht ein noch aus. So steht es auch nicht. Ich bin glücklich, aber nicht wie die, welche die Not nicht kennen und immer nur gute Tage haben. Und bin auch nicht so glücklich wie die katholische Schwester, die mich letzten Winter in meiner Krankheit pflegte. Solche fromme Seele, die nichts will als Gott wohlgefällig sein, ja,
die
hat freilich mehr, und mit der steht es besser. Aber ich bin so gut dran wie gewöhnliche Menschen, die Gott schon danken, wenn ihnen nichts Schlimmes passiert.«
»Und das Zusammenleben mit Ihrer Schwester! Ist es Ihnen keine Last und keine Sorge?«
»Nein. Ich liebe meine Schwester und sie liebt mich.«
»Aber Sie sind doch so sehr verschieden.«
»Nicht so sehr, wie Sie glauben. Sie verkennen meine Schwester; meine Schwester ist sehr gut.«
»Aber das Verhältnis, in dem sie steht! Es muß doch darüber geredet werden und Anstoß geben bei Leuten, die noch ihren Katechismus haben und die Zehn Gebote halten.«
»Ja, bei denen gibt es freilich Anstoß, und meine Schwester, wenn sie mit solchen zusammentrifft, muß oft böse Worte hören. Aber so heftig sie sonst ist, so ruhig ist sie dabei. Sie hat nämlich einen sehr guten Verstand und ein großes Gerechtigkeitsgefühl, und wenn sie solche Worte hört, so sagt sie: ›Ja, Stine, das ist nun mal nicht anders; wer sich in den Rauch hängt, der wird schwarz.‹«
»Nun gut. Aber einen je besseren Verstand Ihre Schwester hat und je mehr sie zugibt, so, wie sie lebt, das Urteil und Gerede der Leute herauszufordern, desto mehr muß sie doch leiden unter der Mißachtung, die sie trifft.«
»Es wäre vielleicht so«, nahm Stine wieder das Wort, »wenn alle Menschen in einerlei Weise dächten. Aber das ist nicht der Fall. Die, die sie verurteilen – und die mitunter lieber schweigen sollten –, das sind immer nur einzelne; die meisten plappern ihre Lehren und Vorwürfe nur so herunter und meinen es nicht bös und denken in ihrem Herzen ganz anders darüber.«
»Wie das?«
»Ja, das ist schwer zu sagen, aber es ist so und kann auch kaum anders sein. Denn die, die Not leiden, wollen vor allem aus ihrer Not und ihrem Elend heraus und sinnen und simulieren bloß, wie das zu machen sei. Brav sein und sich rechtschaffen halten, das ist alles sehr gut und schön, aber doch eigentlich nur was Feines für die Vornehmen und Reichen, und wer arm ist und das Feine mitmachen will, über den ziehen sie bloß her – und die gestern noch die Strengsten waren, am meisten – und reden und spotten, daß man was Apartes sein wolle. ›Die denkt wohl, sie sei es.‹ Ach, wie oft hab ich das hören müssen.«
»Welche Verworrenheit der Begriffe.«
»Ja, so nennen Sie's, und ich mag nicht widersprechen. Aber dieselben Leute, die so verworren scheinen, sind auch wieder sehr hell und halten auf Pflicht, wo sie sich aus freien Stücken verpflichtet haben. Und das gleicht manches wieder aus. Neben ihrem bloßen Gerede, das heute so ist und morgen so, gibt es auch was, das ihnen feststeht, und das ist das Wort und die Zusage. Mit dem ›sich gut halten‹, solange man frei ist, kann man's am Ende halten, wie man will; aber mit dem Kontrakte muß man's halten, wie man soll. Was ich übernehme, das gilt, und ehrlich sein ist die Hauptsache geworden. Und so kann es einer armen Frau passieren, in einem Verhältnis, das nicht löblich ist, doch noch gelobt zu werden.«
»Und dieses Vorzuges genießt Ihre
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