Stirb ewig
zurücklagen, war er vermutlich die einzige Hoffnung für die Opfer und ihre Angehörigen.
Richard Ventnor, ein homosexueller Tierarzt, vor zwölf Jahren in seiner Praxis zu Tode geprügelt. Susan Downey, ein wunderschönes Mädchen, vor fünfzehn Jahren vergewaltigt, erwürgt und auf einem Friedhof abgelegt. Pamela Chisholm, eine reiche Witwe, tot in ihrem demolierten Wagen aufgefunden – aber mit den falschen Verletzungen. Die skelettierten Überreste von Pratap Gokhale, einem neunjährigen Inder, den man unter den Dielenbrettern eines mutmaßlichen Pädophilen fand, der längst untergetaucht war. Und das waren nur einige der Fälle, an die Grace sich erinnerte.
Obwohl sie längst begraben oder ihre Asche zerstreut worden war, hatten sich auch für die Opfer die Umstände geändert. Neue Technologien, darunter die DNA-Analysen, erbrachten neue Beweise und neue Verdächtige. Das Internet bot ungeahnte Kommunikationsmöglichkeiten. Loyalitäten veränderten sich. Neue Zeugen tauchten auf. Ehen wurden geschieden. Freunde entzweiten sich. Jemand, der vor zwanzig Jahren nicht gegen seinen Kumpel ausgesagt hätte, hasste ihn heute. Mordakten wurden nie geschlossen. Die langsamen Fälle nannte man sie.
Das Telefon klingelte. Es war die Managementassistentin, die er sich mit dem Assistant Chief Constable, seiner unmittelbaren Vorgesetzten, teilte. Sie erkundigte sich, ob er den Anruf eines Ermittlers entgegennehmen wolle. Die Geschichte mit der politischen Korrektheit, die innerhalb der Polizei besonders stark ausgeprägt war, ging ihm zunehmend auf die Nerven. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte es Sekretärinnen gegeben und keine verdammten Managementassistentinnen.
Er bat sie, den Anruf durchzustellen, und schon erklang eine vertraute Stimme. Glenn Branson, ein begabter Detective Sergeant, mit dem er mehrere Fälle bearbeitet hatte – ungeheuer ehrgeizig, scharfer Verstand, eine wandelnde Filmenzyklopädie. Und vermutlich sein engster Freund, der ihm viel bedeutete.
»Wie geht’s, Roy? Du warst ja in der Zeitung.«
»Hör auf mit dem Scheiß. Was willst du?«
»Mir geht’s gut. Dir auch?«
»Nein.«
»Hast du gerade viel zu tun?«
»Was verstehst du unter viel?«
»Schon mal eine Frage mit etwas anderem als einer Gegenfrage beantwortet?«
Grace lächelte. »Und du?«
»Hör mal, ich werde von einer Frau gelöchert – wegen ihres Verlobten. Sieht aus, als wäre ein Junggesellenabschied ganz schön schief gelaufen, der Bursche wird seit Dienstagabend vermisst.«
Mittlerweile war es Donnerstagnachmittag. »Und?«
»Ich dachte, du bist heute wieder im Gericht. Dein Handy war ausgeschaltet.«
»Ich esse gerade. Richter Driscoll hat die Verhandlung vertagt, weil die Verteidigung neue Vorlagen eingebracht hat.«
Einer der Nachteile von Strafprozessen war die Zeit, die sie in Anspruch nahmen. Als leitender Ermittler musste Grace die ganze Zeit im Gericht anwesend sein oder sich zumindest bereithalten. Das Verfahren gegen Hossain würde mindestens drei Monate dauern – und er würde die meiste Zeit herumhängen und warten, dass man ihn aufrief.
»Ich habe das Gefühl, das ist keine normale Vermisstengeschichte, und würde gern deine Meinung dazu hören. Hast du heute Nachmittag zufällig Zeit?«
Grace hätte jeden anderen abgewiesen, aber er wusste, dass Glenn Branson seine Zeit nicht verschwendete – außerdem war er selbst bei diesem Scheißwetter froh über jeden Grund, das Büro verlassen zu können. »Klar, das geht in Ordnung.«
»Super.« Kurze Pause, dann schlug Branson vor: »Wir könnten uns in der Wohnung von diesem Typen treffen – es wäre hilfreich, wenn du es dir selber anschaust – ich besorge den Schlüssel.« Branson nannte ihm die Adresse.
Grace sah auf die Uhr, dann in den Terminkalender in seinem Blackberry. »Wie wäre es mit halb fünf? Wir könnten danach noch etwas trinken gehen.«
»Du brauchst keine drei Stunden, um – ach so, in deinem Alter muss man es langsam angehen lassen. Bis nachher.«
Grace stöhnte. Er wurde nicht gern an den drohenden runden Geburtstag erinnert. Die Vorstellung, vierzig zu werden, gefiel ihm gar nicht. In diesem Alter zogen die meisten Menschen Bilanz. Er hatte irgendwo gelesen, dass die Situation, in der man sich mit vierzig befand, den Rest des Lebens prägen würde. Achtunddreißig zu sein war irgendwie okay, neununddreißig schon so gut wie vierzig. Und vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er Vierzigjährige uralt gefunden.
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