Stirb ewig
Sorge, die Antworten auf seine Fragen. Sechzehn Jahre Berufserfahrung hatten ihn vieles gelehrt, vor allem, dass die Wahrheit nicht immer gleich erkennbar war. Ashley Harper wusste mehr, als sie sagte, dessen war er sich sicher. Ihre Augen sprachen eine deutliche Sprache. Natürlich war es denkbar, dass sie sich sorgte, Michael Harrisons mögliche Steuerhinterziehung mit der Firma auf den Cayman Islands könnte ans Licht kommen. Doch er spürte, dass mehr dahinter steckte.
Zwanzig Minuten später parkten sie auf einer gelben Linie an der Kemp Town Promenade, die hoch über dem Strand und dem Kanal verlief.
Der Regen prasselte noch immer, und bis auf einen verschwommenen, grauen Fleck am Horizont, der ein Tanker oder Frachter sein mochte, wirkte das Meer verlassen. Ein steter Strom von Autos und Lkw floss an ihnen vorbei. Rechts sah Grace den Palace Pier mit seinen weißen Kuppeln, schrillen Lichtern und dem Karussell, das am Ende wie eine Säule aufragte.
Auf der Marine Parade, dem breiten Boulevard, der an den hübschen Regency-Fassaden mit Meerblick entlangführte, staute sich der Verkehr in beide Richtungen.
Das Van Allen war eines der wenigen modernen Gebäude, sechs Stockwerke Art Deco zwischen einem Parkhaus und einem Schwulen-Nachtklub. Sie drückten die Klingel von Wohnung 407 an der Sprechanlage, die von höchsten Sicherheitsvorkehrungen zeugte, worauf sich sofort eine Stimme meldete. »Hallo?«
»Mark Warren?«
»Ja, wer ist dort?«
»Die Polizei – wir würden gern mit Ihnen über Michael Harrison sprechen.«
»Sicher doch, kommen Sie rauf. Vierter Stock.« Ein scharfer Summton, Grace stieß die Tür auf.
»Komischer Zufall«, sagte er zu Branson, als sie den hochmodernen Aufzug aus blickdichtem, blauem Material mit berührungsempfindlichen Bedientasten betraten. »Ich war gestern Abend zum Pokern hier.«
»Wen kennst du denn hier?«
»Chris Croke.«
»Den Typen von der Verkehrspolizei?«
»Er ist okay.«
»Wie kann er sich so was leisten?«
»Reich geheiratet – besser gesagt, reich geschieden. Seine Frau hatte Geld, ihr Vater hat wohl mal in der Lotterie gewonnen. Und er hatte einen guten Scheidungsanwalt.«
»Schlauer Hund.«
Sie stiegen im vierten Stock aus und gingen durch einen Flur mit dickem Teppich und blauen Halogenlampen, die das Farbthema des Aufzugs wieder aufnahmen. Branson klingelte an der Tür von 407.
Ein Mann Ende zwanzig in weißem, krawattenlosem Businesshemd, Nadelstreifenhose und schwarzen Slippern mit Goldkettchen machte ihnen auf. »Kommen Sie herein, meine Herren«, sagte er freundlich.
Grace sah ihn an, meinte ihn zu kennen. Er hatte den Mann schon einmal gesehen, und es war gar nicht lange her. Aber wo?
Branson zeigte ihm den Ausweis, den Mark Warren kaum zur Kenntnis nahm. Sie folgten ihm durch einen schmalen Flur in einen riesigen offenen Wohnraum, in dem zwei rote Sofas ein großes L bildeten und ein niedriger schwarzer Lacktisch als Grenze zum Küchen- und Essbereich diente.
Die Wohnung wirkte ähnlich minimalistisch wie Ashley Harpers Haus, war aber weitaus kostspieliger eingerichtet. Auf einem Sockel in der Ecke thronte eine afrikanische Maske. An den Wänden hingen hochkarätige, wenn auch unverständliche abstrakte Gemälde, und das Aussichtsfenster ging direkt aufs Meer hinaus. Auf dem Flachbildfernseher von Bang & Olufsen lief ein Nachrichtenprogramm ohne Ton.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Mark Warren und knetete dabei die Hände.
Grace beobachtete aufmerksam seine Körpersprache, lauschte auf den Tonfall der Stimme. Der Mann verströmte pure Angst. Kein Wunder. Grace wusste aus Erfahrung, dass Überlebende einer Katastrophe mit großen Schuldgefühlen zu kämpfen hatten.
»Nein, danke. Wir möchten Sie auch nicht lange aufhalten, es sind nur ein paar Fragen.«
»Gibt es etwas Neues von Michael?«
Grace berichtete von der Suche in den Pubs und dem fehlenden Sarg. Aber die Art und Weise, wie Warren darauf reagierte, ließ bei Grace ein Warnlicht aufleuchten. Vorläufig war es nur ein kleines, doch es war ein Signal.
»Das glaube ich keinesfalls, dass die Jungs einen Sarg mitgenommen haben«, meinte Mark Warren.
»Eigentlich müssten Sie es ja wissen«, versetzte Grace. »Ist es nicht die Aufgabe des Trauzeugen, den Junggesellenabschied zu organisieren?«
Mark nickte.
Grace runzelte die Stirn. »Aber Sie waren trotzdem nicht an der Planung beteiligt?«
Mark wirkte nervös. Seine Stimme zitterte, wurde aber schnell
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