Stirb, mein Prinz
aus. Auf dem Bett hatte sich der Junge so dicht ans Kopfteil gepresst, als wolle er in die Wand hineinkriechen. Er schrie. Er schrie um sein Leben.
An seinem Bett stand ein Mann, den Phil noch nie zuvor gesehen hatte.
Als der Mann merkte, dass er nicht länger allein war, fuhr er herum.
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, rief er. »Kommen Sie nicht näher. Ich meine es ernst …«
Erst jetzt sah Phil die Pistole.
66 Mickey lehnte sich zurück, verschränkte die Finger hinter dem Kopf und streckte sich. Spürte das Ziehen der Muskeln in Armen und Seiten. Er ließ locker, dann streckte er sich erneut. Atmete einmal tief ein und aus. Und ließ wieder locker.
Er hasste Schreibtischarbeit. Aus tiefster Seele. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen. Manche Leute – Milhouse zum Beispiel – waren für solche Arbeit wie geschaffen. Für sie gab es nichts Schöneres, als den ganzen Tag vor einem Monitor zu sitzen, in einer virtuellen Welt nach virtuellen Zahlen und Daten zu suchen, aus denen am Ende dann etwas Reales und Konkretes wurde. Mickey konnte das nicht. Er brauchte Action. Er sagte das nur ungern, weil er dadurch wie ein hirnloser Schläger wirkte – wie die Sorte Mann, die sich freiwillig zur Bereitschaftspolizei meldete. Aber es war die Wahrheit. Nicht das mit der Bereitschaftspolizei. Er konnte die Typen, die sich von dieser Seite des Polizeidienstes angezogen fühlten, nicht ausstehen. Aber das mit der Action. Verbrecher hochnehmen. Verfolgungsjagden. Solche Sachen. Richtige Polizeiarbeit. Nicht vor dem Computer hocken, bis einem die Augen tränten.
Nichtsdestotrotz hatte er einige interessante Dinge herausgefunden. Er hatte sich also nicht umsonst gequält.
Das war immerhin etwas.
Und ohne Glass war es im Büro auch deutlich besser auszuhalten. Schon vor dem Gespräch auf dem Parkplatz hatte Mickey seine Zweifel an dem Mann gehabt. Hatte ihm gegenüber ein instinktives Misstrauen empfunden. Oder Abneigung. Für Mickey war da oft kein großer Unterschied.
Trotzdem musste er immer wieder daran denken, was Glass gesagt hatte. Hatte der DCI recht? Hatte er sich zu stark an Phil orientiert? Würde das Einfluss auf seine Karriere haben? Er schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um über so etwas nachzudenken.
Er rieb sich die Augen und richtete den Blick erneut auf den Bildschirm. Richard Shaw. Tricky Dicky. Hatte seine Spur doch nicht ganz so gut verwischt wie gedacht. Wenn sogar jemand wie Mickey sie nachverfolgen konnte.
Erneut rieb er sich die Augen. Er hielt es keine Sekunde länger am Schreibtisch aus. Musste dringend an die frische Luft.
Mit einem zufriedenen Lächeln holte er sein Handy heraus. Perfekt , dachte er. Genau die Ausrede, die ich brauche.
»Wir müssen uns treffen«, sagte er anstelle einer Begrüßung. »Jetzt gleich.«
Fünfzehn Minuten später erreichte er die Fußgängerbrücke mit Blick auf Balkerne Hill. Auf einer Seite stand die alte römische Mauer, die den historischen Stadtkern umgab. In eine Mauerecke gequetscht lag der Pub Hole in the Wall. Gegenüber befand sich die exklusive Vorstadtsiedlung St Mary’s. Unter ihm donnerte der Verkehr auf der zweispurigen Schnellstraße in die Stadt hinein als auch hinaus.
»Hallo, Stuart«, sagte er.
Stuart war bereits da und blickte nach unten auf die Straße. Als Mickey zu ihm trat, sah er auf.
»Du weißt genau, dass ich von Treffen am helllichten Tag nichts halte«, sagte er, während sein Blick umherschweifte, als hielte er nach Spionen Ausschau. »Schon gar nicht an ’nem Ort wie dem hier.«
Mickey lächelte. »Ich weiß gar nicht, was du hast, Stuart. Ist doch besser als in irgendeiner dunklen Gasse oder an der Straßenecke vor einer zwielichtigen Kneipe. Hier oben ist man absolut unbeobachtet. Sicherer geht’s nicht.«
Mickey konnte Stuart ansehen, dass er ihn nicht überzeugt hatte.
»Also, weswegen wolltest du mich sprechen?«, fragte Stuart mit einem schicksalsergebenen Seufzer.
Mickey musterte ihn. Stuart war schon vor seiner Versetzung nach Colchester Informant gewesen. Er hatte bereits Mickeys Vorgänger mit Informationen versorgt und nichts dagegen einzuwenden gehabt, das Arrangement mit Mickey fortzuführen. Sieht ziemlich fertig aus , dachte Mickey. Aber andererseits sah Stuart immer fertig aus.
Stuart war groß und dünn, und seine Absatzstiefel aus schwarzem Wildleder hatten schon bessere Tage gesehen. Wahrscheinlich damals, als die Scheidung von John Lennon und Cynthia lief.
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