Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Muttersprache so gut wie nie. Musik war auch eins ihrer Hauptfächer, wie es sich für eine junge Dame gehörte. Doch das, womit sie sich am liebsten befassen wollte, stand nicht auf dem Lehrplan: die Psychologie. Sie las Werke, die es in der Schulbücherei nicht gab und die sie sich in der Stadtbibliothek besorgen musste. Darin suchte sie nach Antworten auf ihre Fragen, denn andere Möglichkeiten, den Gründen auf die Spur zu kommen, hatte sie nicht. Sie las Freuds Klassifikationen der Hysterie, dachte, sie hätte es verstanden, und hasste ihn dafür, dass er dem Ganzen einen Namen gegeben hatte. Dass er es übermächtig gemacht und in vielen Frauen erkannt hatte. Bei der Lektüre wurde ihr übel, trotzdem konnte sie nicht aufhören, über Dora K. zu lesen. Sie fragte sich, ob sie eine war – eine Hysterikerin – und deshalb den Mund halten musste. Ob sie deshalb lernen musste.
Und jetzt, ein Jahr vor dem Abitur, ein Jahr vor den Abschlussprüfungen, hatte sie aufgehört zu bluten.
Seit dem Aufwachen war ihr übel, und der Geruch des Weihrauchs machte es noch schlimmer. Nur zweimal in ihrem Leben hatte sie die Messe versäumt: das erste Mal, als sie die Masern hatte, und das zweite Mal, als sie mit ihren Eltern zum Begräbnis ihres Großvaters nach Italien gereist war. Von diesen beiden Ausnahmen abgesehen, hatte die Familie Mariani Sonntag für Sonntag auf derselben Kirchenbank gesessen und zugehört, wie Pater Michael die Welt verdammte.
Die hölzerne Bank war wie ein Kasten, in den sie nicht passte, und bei der Anstrengung, gerade zu sitzen, brach ihr der Schweiß aus. Der massige Körper ihres Vaters drückte gegen ihre rechte Seite. Er merkte, dass sie zappelte. »Sitz still«, befahl er. Die Frau vor ihnen drehte sich zu ihnen um. Ihr Vater nickte ihr entschuldigend zu. Zu Mattys Linken saß ihre Mutter, steif und reglos wie eine Grabfigur. Sie starrte auf Pater Michael, als kenne er die Antworten auf sämtliche Fragen. Mattys Mutter war perfekt zurechtgemacht und der Inbegriff frommer Konzentration.
Die Stimme des Priesters hob sich, wurde laut und volltönend. Die Kerzenflammen zuckten, als fürchteten sie sich vor der Gewissheit, mit der er verkündete: »Die Sünde ist eine Seelenkrankheit, die nur der Herr heilen kann. Die einzige Medizin gegen die Sünde ist die Reue. Bereut ihr?«, rief er. »Tut ihr das von ganzem Herzen?«
Matty kam es vor, als richte sich sein Blick auf sie. Sie sah zu Boden und wurde von der nächsten Welle der Übelkeit übermannt, ein Schub, der ihr den Magen umdrehte. Sie fühlte sich seekrank und krallte die Hände ineinander, versuchte, sich auf einen Punkt zu konzentrieren, konnte jedoch nur niederknien und sich auf das Kissen des Betschemels sinken lassen. Der rote Wollbezug kratzte an ihren nackten Knien, aber beten konnte sie nicht.
Als sie die Augen schloss, nahm die Übelkeit zu, weshalb sie die Statue der Jungfrau Maria fixierte und die Ironie der Situation erkannte. Da kniete sie vor einer anderen ledigen Schwangeren und starrte sie an, um sich nicht zu übergeben. Sie spürte, wie Galle in ihrem Rachen aufstieg.
»Vater unser«, intonierte die Gemeinde. »Der du bist im Himmel. Geheiligt werde dein Name.«
Matty krümmte sich und versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken. Als die anderen um Vergebung baten, wie auch sie ihren Schuldigern vergeben wollten, wusste sie, dass sie nicht mehr dagegen ankam. Sie überließ sich der Kraft der Natur und erbrach sich auf den blank polierten Fußboden.
Ihre Mutter nahm an, dass sie von dem Fisch am Vorabend eine Lebensmittelvergiftung hatte, und erlaubte ihr, auf die Beichte zu verzichten. Matty hätte Pater Michael ohnehin nicht die Wahrheit sagen können. Sie kannte die Geschichte der Muttergottes und der jungfräulichen Geburt ihres Sohnes Jesus Christus, wusste jedoch, dass gewisse Handlungen sündhaft waren. Aus den Büchern, die in der Stadtbibliothek unter der Rubrik »Gesundheit« standen und Abbildungen enthielten, hatte sie erfahren, dass ein Kind entfernt werden konnte, dass man es wegmachen lassen konnte wie einen Tumor, der herausgeschnitten werden musste. Einmal hatte ihre Mutter einen Knoten in der Brust gehabt, der herausoperiert worden war, um sie wieder gesund zu machen. Genau das brauchte auch Matty. Sie wollte, dass das Schlechte aus ihr herausgetrennt wurde, wusste jedoch, dass es unmöglich war. Sie hatte gesündigt. Selbst wenn es eine Heilmethode gäbe, würde sie nie mehr genesen. Wie auch,
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