Stoer die feinen Leute nicht
den Hasen und schlüpfte in ihr Zimmer zurück. Während sie ihn streichelte, schaltete sie den Heißwasserbereiter ein und lauschte nach draußen.
Eine halbe Stunde später saß sie vor dem Fenster und beschäftigte sich mit ihrem Make-up. Alfons Mümmel knabberte indessen an der Bastmatte herum, die Frau Meyerdierks zur Schonung der Dielen vor das Waschbecken gelegt hatte. Katja fand es allmählich gemütlich.
Die übliche Prozedur vor dem kleinen Standspiegel. Tönungscreme für ihr etwas blasses Gesicht, hellblauer Puder auf die Lider. Dann legte sie den Kopf etwas in den Nacken, schloß das rechte Auge zu etwa zwei Dritteln und bemühte sich, mit einem zierlichen Pinsel fachgerecht einen feinen braunen Lidstrich zu ziehen. Es glückte. Kam, um die restliche Farbe am Pinsel aufzubrauchen, der kleine Leberfleck oberhalb des rechten Mundwinkels an die Reihe. Schließlich drehte sie ihren goldenen Mascara-Stift auf und tuschte sich, nun schon etwas ungeduldig, die Wimpern. Ein Blick auf die Uhr – kein Grund zu hetzen. Sie räumte ihre Utensilien in die blau-goldene Kosmetiktasche und schaute noch einmal prüfend in den Meyerdierksschen Spiegel über dem Waschbecken. O Kay. Mit ein paar Bürstenstrichen war auch das Haar in Ordnung gebracht. Sie schob Alfons Mümmel auf den Flur hinaus und stieg zum Frühstücksraum hinunter.
Sie hoffte ihn leer zu finden, denn nichts war abscheulicher für sie, als am frühen Morgen Blabla produzieren zu müssen. Es wohnten viele Vertreter hier, Meister des hirnlosen Gesprächs. Handlungsreisende, die der Tod zu lange warten ließ.
Aber nur der Herr Abteilungsleiter starrte ihr entgegen. Unwiderstehlich wieder einmal, der Gott fußmüder Verkäuferinnen, unverehelicht, erfolgreich.
„Guten Morgen, Fräulein…“ Ganz Charmeur. Schon rückte er den Stuhl für sie zurecht.
„Buenos dias, Senor!“
Staunen, geübtes Lächeln. „Ah, Sie sind Spanierin?“
„No le comprendo; Dispense usted!“ Katja setzte sich in die Ecke und drehte dem Herrn Abteilungsleiter den Rücken zu. Nicht für die Urlaubsreise lernte der Mensch, sondern fürs Leben.
Vor ihr das deutsche Einheitsfrühstück, patentiert appetitverderbend. Zwei schrumpelige Brötchen, je eine Scheibe Grau- und Schwarzbrot, zwei Schälchen mit Konfitüre, Erdbeer und Aprikose, ein Minipäckchen Butter, weich bereits und nur zu öffnen, indem man sich die Finger fettig machte. Rachsüchtig wischte sich Katja die Fingerspitzen an der überraschend sauberen Tischdecke ab und sah sich um.
Ein schöner Raum – schön häßlich. Bis zur Höhe der Tische eine senfbraune Holztäfelung, darüber eine lindgrüne Rauhfasertapete. An den Wänden mehrere auf Holz geleimte Puzzles, schönste Zeugnisse Meyerdierksscher Kunstfertigkeit; Seeschlachten, der Kudamm, die Tower Bridge. Dazwischen ein Ölgemälde, eine Missionsstation irgendwo in Afrika darstellend. Bei den Pygmäen wohl. Vielleicht waren die Neger auch aus ideologischen Gründen neben den Weißen so klein geraten. Offenbar von einem dankbaren Missionar gestiftet. Von Bramme in die Welt hinaus. Erst Zwergschüler, dann Zwerge als Schüler.
Frau Meyerdierks kam mit dem, was sie Kaffee nannte, und fragte, ehe sie sich formgerecht nach der Tiefe des Schlafs erkundigt hatte, in sichtlicher Erregung: „Wissen Sie schon das Neueste?“
„Nein. Woher?“
„Mein Bruder ist überfallen worden!“
„Das ist ja…“ Ja, was? Schrecklich, fürchterlich, entsetzlich, nicht zu glauben, eine Schande, grauenhaft? Trotz der großen Auswahl fiel Katja nichts Passendes ein.
„Er ist Briefträger“, sagte Frau Meyerdierks. „Hier bei uns.“
„Wer überfällt denn Briefträger?“
„Mit Chloroform!“
„Haben sie ihn betäubt?“
„Ja. Und ein Bündel Briefe gestohlen – nichts weiter!“
„Komisch…“
„Er ist schon wieder zu sich gekommen. Aber der Schock…“
„Hatte er denn Geld bei sich?“
„Ja. Aber es fehlt kein einziger Pfennig!“ Frau Meyerdierks konnte es nicht fassen. „Nur ein Bündel Briefe.“
„Vielleicht jemand, der gestempelte Marken sammelt…“
Frau Meyerdierks reagierte nicht; diese Art von Humor war Brammer Bürgern fremd. „Und denken Sie mal: da war auch einer für Sie bei!“
Katja sah erstaunt hoch. „Wie können Sie denn wissen, ob ein Brief für mich dabei war, wenn die Briefe gestohlen worden sind?“
Frau Meyerdierks schaute jetzt pfiffig drein. „Ganz einfach: Karl-Heinz – so heißt mein Bruder – ruft jeden
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