Stoerfall in Reaktor 1
können.
»Du bist Lukas, oder? Also, Lukas, es ist ein Fakt, dass im Umkreis von Atomkraftwerken eine signifikante Häufung von Leukämiefällen bei Kindern auftritt, ungefähr dreimal so hoch wie in der Durchschnittsstatistik. Aber tatsächlich wäre es wahrscheinlich zu kurz gedacht, daraus jetzt den Rückschluss zu ziehen â¦Â«
»Kommt das von Ihnen oder haben die Typen vom AKW Ihnen nahegelegt, dass Sie das sagen sollen?«, unterbricht Lukas sie. »Ich hab gesehen, wie Sie beiseite geführt wurden, bevor Sie weiterreden konnten, und wie die Sie dann zu Ihrem Auto gebracht haben. Womit haben die Ihnen gedroht, falls Sie nicht Ruhe geben sollten?«
Die Ãrztin schüttelt den Kopf. »Ich bin Ãrztin, Lukas, Wissenschaftlerin. Ich ⦠brauche Fakten, ich kann nicht einfach irgendwas behaupten, was wissenschaftlich nicht belegbar ist. Oder jedenfalls â¦Â«
»Ja?«
»Nicht genügend belegbar, um als ⦠Beweis gelten zu können. Es hat zig Untersuchungen gegeben, vor allem beim Kernkraftwerk Krümmel, aber es gibt auch genug Gegenargumente, die eben keine eindeutigen Rückschlüsse zulassen. Oder zumindest nicht einfach negiert werden können! Als Ãrztin habe ich auch eine Verantwortung, nicht nur gegenüber meinen Patienten, sondern auch â¦Â«
»Jaja«, unterbricht Lukas sie. »Hören Sie auf, das brauche ich jetzt nicht.«
»Gut, Klartext! Wenn du mich persönlich fragst, dann ⦠Wenn ich kleine Kinder hätte, würde ich ganz bestimmt nicht in die Nähe eines AKW s ziehen. Reicht dir das als Antwort?«
Hammer, denkt Lukas, das ist genau der Satz, auf den ich gewartet habe!
»Und das war es, was Sie gestern eigentlich sagen wollten?«
»So ungefähr, ja. Dass es Situationen gibt, in denen man sich nicht mehr dahinter verstecken kann, dass eine Ursachenklärung noch nicht zur Gänze abgeschlossen ist. Dass wir manchmal durchaus gut daran täten, uns ganz einfach auf unser Gefühl zu verlassen. Und hier ist es deutlich mehr als nur ein Gefühl oder ein Verdacht. Aber ein Verdacht reicht noch nicht. Das kann ich als Ãrztin nicht vertreten.« Sie fährt sich mit der Hand übers Gesicht, als wäre sie am Ende ihrer Kräfte. »Doch, natürlich kann ich das«, setzt sie dann leise hinzu. »Aber zumindest in Wendburg oder auch hier in der ganzen Gegend stünde ich so ziemlich alleine da. Und vielleicht habe ich einfach Angst vor den Konsequenzen.«
»Aber was für Konsequenzen sollten das sein?«, hakt Lukas nach. »Es hat doch was damit zu tun, was die Ihnen gesagt haben, richtig? Was war das? Womit haben die Sie unter Druck gesetzt?«
»Das werde ich dir ganz bestimmt nicht erzählen«, kommt die prompte Antwort, als wäre der Ãrztin plötzlich klar geworden, dass sie schon viel zu viel gesagt hat. »Das ist meine Sache, damit muss ich allein klarkommen und sonst niemand. Kümmern wir uns lieber um deine Schwester.«
Sie zeigt in die Richtung, aus der gerade Lukasâ Mutter und Karlotta von den Toiletten zurückkommen.
»Und wenn ich Ihnen ein paar Fakten liefere?«, sagt Lukas noch schnell. »Radioaktives Kühlwasser, das seit Jahren ohne Filter in den Fluss gepumpt wird. Eine Filteranlage für den Dampf aus dem Druckbehälter, die es zwar gibt, die aber nicht genutzt wird. Wären Sie dann bereit, einen Kommentar dazu abzugeben? Als Ãrztin, meine ich? Wegen der Leukämiefälle hier?«
Die Ãrztin sieht ihn an, als hätte ihr gerade jemand den Boden unter den FüÃen weggezogen.
»Ja«, sagt sie dann nur knapp, bevor sie auf Karlotta zueilt und sich vor sie hockt, um ihr zu erklären, wie es jetzt weitergeht.
Lukas steht zwar daneben, hört aber dem Gespräch nicht zu. Er fühlt sich fast ein bisschen so, als hätte er gerade einen Sieg errungen. Sie haben die Ãrztin auf ihrer Seite, wenn es nötig ist, da ist er sich sicher. Andererseits ist ihm bei dem Gespräch eben klar geworden, wie sehr alle davor zurückschrecken, eine klare Stellung zu beziehen. Jeder hat Angst, dass er dann alleine dasteht. Und wer weiÃ, womit Koschinski und Müller der Ãrztin gedroht haben! Aber vielleicht haben sie noch nicht mal irgendetwas Konkretes gesagt, wahrscheinlich reicht schon so ein Satz wie: »Wollen wir uns nicht in aller Ruhe noch mal überlegen, ob wir uns das wirklich
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