Stoerfall in Reaktor 1
leisten können, hier mit irgendwelchen Anschuldigungen die Leute verrückt zu machen?« Oder etwas Ãhnliches jedenfalls. Und wenn das nicht helfen sollte, kommt der nächste Schritt. Dann wird wirklich Druck gemacht.
Lukas hat gerade neulich erst eine Dokumentation im Fernsehen gesehen, bei der es um Preisabsprachen unter den Pharmakonzernen ging. Ein Polizist der Sonderkommission hat von einem Angestellten aus einer Arzneimittelfirma erzählt, der mit irgendwelchen Informationen an die Presse gegangen ist â und dann anonyme Telefonanrufe bekommen hat, bis hin zu Morddrohungen. Als sie ihm dann nachts sein Haus abgefackelt haben, hat er brav alle Anschuldigungen widerrufen. »Das sind Strukturen wie bei der Mafia«, hat der Polizist gesagt, dessen Gesicht durch ein grob verpixeltes Raster unkenntlich gemacht worden war, »die schrecken vor nichts zurück, um ihre Interessen zu sichern.« Lukas hat da noch gedacht, dass das bestimmt übertrieben war, aber inzwischen ⦠Womit er wieder bei der Datei wäre, die Hannahs Vater angelegt hat. Und die sie jetzt an die Presse geben wollen. Sie können nur hoffen, dass Hannah wirklich so gut ist, wie sie behauptet, und niemand rauskriegt, wer sich da in das Computersystem des AKW s gehackt hat!
»He!«, seine Mutter tippt ihm auf die Schulter. »Komm, Lukas, das ist okay, wirklich. Mach dir keine Gedanken deshalb. Unternimm irgendwas in der Stadt, mach dir ein paar schöne Stunden. Hast du Geld? Sonst geb ich dir was â¦Â«
Lukas braucht einen Moment, bevor er kapiert, wovon sie spricht. Offensichtlich haben sie gerade verabredet, dass seine Mutter mit der Ãrztin bei Karlotta bleibt, und er aber nicht auch noch dabei sein muss.
»Das ist wirklich nicht nötig, Lukas«, sagt jetzt auch die Ãrztin. »Wir kommen gut alleine klar.«
Sie sieht ihn nicht an dabei, als hätte sie Angst, dass jeder Blickkontakt sie an ihr Thema von vorhin erinnert. Vielleicht will sie mich auch einfach loswerden, denkt Lukas. Aber als Karlotta ihn dann angrinst und ihm kumpelhaft ihre Hand hinstreckt, sagt er nur: »Gib mir fünf, Partner, wir sehen uns!«
Lukas und seine kleine Schwester klatschen sich ab, dann umarmt er kurz seine Mutter und geht zum Fahrstuhl, ohne noch etwas zu sagen.
Als er auf die StraÃe tritt, schlägt ihm die Mittagshitze entgegen. Die Luft flimmert über den Autos auf dem Parkplatz, von irgendwoher hört er Techno-Gewummer. Er schiebt die Hände in die Hosentaschen und läuft los in Richtung Innenstadt. In der MarktstraÃe ist ein CD -Laden, in dem er schon lange nicht mehr war. Vielleicht findet er irgendetwas, was er Karlotta mitbringen kann. Vielleicht ein neues Hörbuch. Und für sich selbst die neue CD von den Arctic Monkeys . Falls sie so was in Hildesheim schon kennen. Und irgendwas für Hannah will er auch noch kaufen. Nein, eben nicht irgendwas, sondern was Besonderes. Ein T-Shirt mit einem Spruch wäre nicht schlecht. Vielleicht einer von den Chuck-Norris-Sprüchen, die gerade mal wieder auf Facebook rumgeschickt werden, und statt Chuck Norris einfach Hannah: »Nur Hannah kann sehen, wer dein Profil auf Facebook besucht hat.« Irgendwie so was vielleicht.
An der Ecke zur MarktstraÃe kommt er an einem Zeitungskiosk vorbei. Heute Morgen lag die Zeitung wie immer bei ihnen auf dem Küchentisch. Aber weder er noch seine Eltern haben einen Blick hineingeworfen, er hatte sich ja mit seinem Vater gestritten und seine Mutter hatte ohnehin nur Karlotta im Kopf gehabt.
Lukas greift sich eine Zeitung aus dem Ständer und blättert auf die Seite mit den Berichten aus der Region. Als Erstes springt ihm das Foto, das über dem Artikel prankt, in die Augen: Der Bürgermeister, der sich zu dem kleinen Kind beugt, und der AKW -Direktor daneben. Mit einem Lächeln im Gesicht, das wie festgefroren wirkt. Darunter die Bildunterschrift: »Gemeinsam in die Zukunft â der Leiter des Kernkraftwerks und der Bürgermeister von Wendburg im Fachgespräch mit einem zukünftigen Wissenschaftler.«
Lukas kapiert gar nichts mehr.
» ARGUMENTE GEGEN ANGST «, schreit ihm die Schlagzeile entgegen, als er weiterliest, und dann:
»Gestern gab es an der Zufahrt zum Kernkraftwerk Wendburg eine spontane Versammlung, zu der die Selbsthilfegruppe der Eltern leukämiekranker Kinder aufgerufen hatte. Trauriger Anlass war der Tod der kleinen Leonie (7), die
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