Stoerfall in Reaktor 1
Lukas problemlos zwischen den Reihen entlanglaufen kann. Er pflückt im Gehen einen Kolben ab und schält ihn. Die Körner sind noch nicht richtig gelb, er probiert trotzdem, spuckt den Bissen aber gleich wieder aus. Letztes Jahr hat er für Karlotta eine Maiskolbenpfeife gebastelt, und dann haben sie unten am Fluss gesessen und Huckleberry Finn gespielt. Karlotta war Huck und Lukas der entlaufene Sklave, der gerade mit seinem Floà am Ufer gestrandet ist. Lukas hatte auch tatsächlich überlegt, ein Floà für seine kleine Schwester zu bauen, groà genug für ein kleines Zelt, in dem sie dann in einem flachen Seitenarm hätten übernachten können. Er hatte auch schon leere Plastikkanister als Schwimmer besorgt und die Latten und Bretter für das Deck zugesägt, aber dann war Karlotta von einem Tag auf den anderen immer antriebsloser geworden und hatte zu nichts mehr Lust gehabt â¦
Als er am Ende des Maisfelds ankommt, steigt er über den verrosteten Stacheldrahtzaun auf die von Unkraut überwucherte Wiese. Ein Baum ist umgestürzt, die anderen hängen voll mit kleinen, schrumpligen Ãpfeln. Eine Amsel fliegt zeternd davon, Schmetterlinge torkeln scheinbar ziellos über die Wiese, an einem verfaulten Apfel hängt eine ganze Traube von Wespen. Frieden, denkt Lukas, wie in einer anderen Welt, als gäbe es nichts Böses oder Bedrohliches. Vor hundert Jahren muss es hier wie im Paradies gewesen sein, vielleicht auch noch vor fünfzig, vor zwanzig. Als Lukas hochblickt, sieht er hinter den Baumkronen die Kühltürme aufragen.
Hannah lehnt an einem Stamm und lächelt, als er näher kommt.
»Making love underneath the apple tree«, sagt Lukas, ebenfalls grinsend. »Nicht schlecht als Code. Ich hab nur einen Moment gebraucht, bis ich die Uhrzeit raushatte.«
»Aber du bist pünktlich. War es schwierig wegzukommen?«
»Ging so. Bei mir waren sie übrigens auch«, setzt er hinzu. »Dasselbe Spiel: PC aufgeschraubt und Festplatte entfernt. Genauso wie bei Jannik.«
»Ich dachte mir schon so was, nachdem die Bullen gefragt haben, ob wir Jannik kennen. Sie haben Panik, so viel ist sicher. Aber sie stochern nur rum, sie wissen nicht wirklich, wer mit drinhängt. Ich hab vorhin zufällig Alex getroffen, da war bisher niemand. Aber halt dich fest â dafür waren sie bei Tom.«
»Bei wem?«
»Tom aus der 12. Mann, du kennst doch Tom! Der Typ, der überall seine Tags hinterlässt, der Tom! Dein Lieblingsfeind, seit er versucht hat, mich abzuschleppen â¦Â«
»Klar weià ich, wer Tom ist! Ich meine nur, wieso bei dem? Und wie jetzt überhaupt, wurde da auch eingebrochen, oder was?«
Hannah nickt. »Und die Festplatte haben sie auch wieder mitgehen lassen. Bleibt nur zu hoffen für ihn, dass er seine Sketches woanders speichert und nicht ausgerechnet alles am Computer gemacht hat. Aber wahrscheinlich wäre es ihnen auch egal, die suchen ja was anderes.«
»Und wieso dann bei ihm? Ich kapierâs nicht â¦Â«
»Sie stochern rum, das ist alles. Völlig wahllos, keine Ahnung, wie sie ausgerechnet auf ihn gekommen sind.«
Lukas überlegt einen Moment.
»Egal«, sagt er dann. »Wie groà ist das Risiko â¦Â«
»Dass sie uns was anhängen können?« Hannah zuckt mit der Schulter. »Euch sowieso nichts. Bei mir wissen sie, dass ich in ihrem System war, und sie haben den Stick, aber sie werden nichts machen. Können sie nicht, wenn sie nicht wollen, dass die ganze Sache auffliegt. Pattsituation, würde ich sagen. Es steht 1:1 im Moment. Ist die Frage, wer als Nächstes am Zug ist.«
»Aber wir können auch nichts machen, nur das mit deiner Rede beim Auftritt, das geht habe ich mir überlegt, aber mehr auch nicht. Für alles andere bräuchten wir das Material, das wir nicht mehr haben.«
»Wir können schon â¦Â« Hannah stöÃt sich vom Stamm ab und blickt zum AKW hinüber. »Wir müssen ins Werk. Das ist die einzige Chance, die uns noch bleibt.« Sie dreht sich wieder zu Lukas. »Pass auf, ich hab auch nachgedacht. Die Liste, die mein Vater da angelegt hat, das sind alles nur Stichpunkte, wie eine Zusammenfassung, die er für sich selbst gemacht hat. Was immer er damit wollte, aber die Infos muss er ja irgendwoher haben â¦Â«
»Klar, er arbeitet ja im Werk«, unterbricht Lukas sie. »Und als leitender
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