Störgröße M
Monteverdis Lungen. Die Enge
des Helms verdichtete das Keuchen zu einem pfeifenden Laut. »Hast du daran gedacht«, fragte Vanderboldt ohne Vorwurf,
»daß wir jede Hand und jeden Gedanken brauchen werden?
Wir sind so wenige, daß ein jeder von uns hundertfach zählt.
Du wirst uns fehlen.«
George senkte den Blick. Aber in seinen Zügen lag
Fröhlichkeit, eine leise, natürliche Heiterkeit. »Ich muß bei ihr
bleiben«, sagte er. »Ich kann nicht anders. Ich will es. Wäre die Wahl auf sie gefallen, ich hätte sie mit euch geteilt. Sie hätte euch alle geliebt. Ich kenne sie.« Seine Augen glänzten, als nähmen sie ein Bild wahr, eine Erscheinung, die den anderen verborgen blieb. In diesem Moment lebte das unscheinbare Gesicht auf gleich Wüstensand nach Regen. Doch dann fiel es in sich zusammen, hinterließ nicht mehr als den Eindruck einer
trügerischen Spiegelung.
»Jeder Gegenstand, den ich benutzte, jeder Bissen, den ich zu
mir nähme, würde mich erinnern, was wir an seiner Statt
zurückließen.«
Monteverdi schritt auf ihn zu, umarmte ihn. »Verstehe mich.
Ich trage Verantwortung für die Lebenden. Verstehst du das?« »Ja, ich verstehe das.«
Wortlos umarmte ihn Vanderboldt. Als letzter nahm Drunen
Abschied von ihm. Eine Last lag auf seinen Schultern. Der
Druck unausgesprochener Worte peinigte ihn. Er wünschte sich
Dunkelheit, um sich davonzustehlen, wenigstens Blindheit.
Kaufte Georges Opfer sie frei? Trieben sie Ablaßhandel mit
ihrem Gewissen? George zahlte den Obolus. Er wollte
niemandem verpflichtet sein. Nicht einmal einem Toten. Ohne Monteverdis Aufforderung abzuwarten, machte er
kehrt. Eilig überwand er die Distanz, erklomm den Gleiter mit
der fatalen, kostbaren Fracht. Im Einstieg erreichte ihn des
Kommandanten Ruf. Abwartend wandte er sich ihm halb zu. Auf halber Höhe der Stiege verharrend, nickte Monteverdi
wie zum Gruß. »Du bist der bessere Pilot von uns beiden.« »Ich weiß.«
»Mach’s gut.«
Sie wechselten einen abschätzenden Blick. Drunen sah ihm
hinterher, wie er schnellen Schritts dem zweiten Gleiter
zustrebte. Mit jedem Meter, der sie trennte, entwuchs er seinen
Ängsten und Zweifeln. Dem Auftrag ausgeliefert, stellte er
sich.
Mit den Füßen stieß er gegen den Kältesarg. Die Anlage
nahm den gesamten Laderaum ein, ragte sogar noch ins
Cockpit. Vanderboldt hatte die Zwischenwand und den CoPilotensitz entfernen müssen, um Platz zu schaffen.
Er warf einen Blick hinüber. Vanderboldts mächtiger dunkler
Schädel füllte zu einem guten Teil den sichtbaren Ausschnitt
der Kanzel. Langsam bewegte er den Kopf in Drunens
Richtung. Vor der gespenstischen Energie, die seine Züge
beherrschte, kam sich Drunen schwächlich vor. Nur Sekunden
währte die Einbildung, dann konnte er wieder sachlich
beobachten, wenngleich nicht ohne eine geheime
Bewunderung. An den Kanten der Stirn, über den Ohren, auf
den Bögen der Wangen, den sich vorwölbenden Lippen
spiegelten sich Reflexe, als leuchte an diesen Stellen eine Kraft
von innen her. Diese verdammten schwarzen Augen, dachte er.
Sie schlucken alles Licht. Sie sind wie ein Sog.
Boten sie ihm in ihrer Unerschütterlichkeit Hilfe an,
Zuflucht? Wie dem zu Tod erschöpften Wanderer kam ihn die
Sehnsucht an, auf der Stelle umzusinken, einzuschlafen in der
Mitte zwischen allen festen Punkten. Wo war das Ziel, wo der
Anfang seines Weges?
Er packte die Bedienungseinheiten, setzte Energien in
Bewegung; belebte mit Entschlossenheit den stummen
Mechanismus, teilte Schläge aus, als gelte es, ein störrisches
Tier seinem Willen gefügig zu machen. Es beherrschte ihn das
Gefühl, auf der Stelle zu ersticken, wenn er nicht irgend etwas
tat. Mit dem Mut der Verzweiflung mußte er sich seiner selbst
vergewissern, mußte er seine Empfindungen und seine
Gedanken auf ein Ziel konzentrieren, sei es mit einem
Aufschrei, mit Jubel oder mit Tränen in den Augen. Rasch glitt die Maschine an George vorbei, dessen Mund
unhörbare Worte formte. Alles Gute, denkt an mich, vergeßt
nicht die Kameraden, die Erde!
Hinter ihm, über seiner Stirn flüsterte eine Stimme etwas von
niemals vergessen, niemals!
Er hob die Hand, bis George aus seinem Blickfeld
entschwand. Hinter dem Gleiter schob sich das schwere Schott
zu. Als Letztes sah er die rote Tür, die den Hangar vom übrigen
trennte. Dahinter existierten in seiner Vorstellung gesichtslose
Räume.
Routinemäßig fragte Monteverdi an, ob alles in Ordnung sei.
Sie vereinbarten einen Abstand von fünf Sekunden. Drunen
sollte als
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