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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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Jonathans Unansehnlichkeit. »Ich sehe
nicht nur aus wie eine Ratte, ich bin eine. Ich hab’s gewittert.
Fast auf die Stunde hab’ ich die Katastrophe vorausgesagt.
Dreimal«, betonte er, »dreimal, verstehst du. Dann hab’ ich’s
aufgegeben. Jeperzon kann mich nicht leiden, weil ich so
komisch aussehe und weil er mich für einen feigen Hund hält.
Jedem anderen liest er an der Nasenspitze ab, was er denkt oder
fühlt. Bei meiner ulkigen Visage versagt sein Verfahren.
Verstehst du, er durchschaut sie nicht. Da kommt er sich nicht
mehr überlegen vor. Er nimmt es übel, wenn du ihn unterlegen
sein läßt. Tja!« Jonathan nickte, und seine Haare standen so
drahtig ab, daß sie an der Luft zu kratzen schienen.
Wäre ich Jeperzon zehn Jahre früher begegnet, dachte
Dincklee, ich wäre auf ihn reingefallen, wie ich auf Ollstein
‘reingefallen bin. Ollstein hat mich ausgenutzt, und als das nicht mehr ging, hat er mich abgeschoben. Er hätte etwas darum gegeben, daß Jonathan unrecht hätte. Mit dieser Hoffnung ging er zu Bett.
    Die Wache war so langweilig gewesen wie alle Wachen der Welt. Regelmäßig meldeten die Stationen auf den Saturnmonden keine besonderen Vorkommnisse. Der Meteoriteneinfall war belanglos, und die Schäden auf »C4« waren behoben.
    Hin und wieder sah jemand herein und wünschte eine angenehme Wache. Die Fragen nach seinem Befinden wurden ihm schließlich lästig. Doch als die Besuche gegen Abend nachließen und weit vor Mitternacht ganz aufhörten, vermißte er sie.
    Seit Wochen versah Dincklee Innendienst und gedachte mit aufrührerischem Geist der verlorenen Freiheit, der doppelt verlorenen. Er hatte es immer verstanden, sich zu der berufsbedingten, natürlichen, eine zusätzliche zu verschaffen. Mitunter hatte er seinen Anspruch in so anmaßender Form praktiziert, daß er nachträglich dem Erstaunen seiner Freunde und Bekannten recht geben mußte; wie hatte er es so weit bringen können? Waren Zufälle im Spiel? Schicksal? Glück? Soweit er sich zurückerinnern konnte, nie entsprach sein Werden einer Norm, der Norm.
    In Wildheit war er aufgewachsen bei der Mutter seines Vaters, einer in Güte strengen Frau. Sie pflanzte nicht den Ehrgeiz seiner Eltern in ihn, wie wohl alte Leute, deren Lebenserfahrung Weisheit erzeugte, nie viel von der Wichtigkeit der Welt halten.
    Den Eltern ließ der Beruf nur wenige Wochen im Jahr Zeit für ihre Kinder. Ohne die Großmutter waren sie unter das Gesetz gefallen, welches bestimmte, daß Eltern, sofern sie nicht in der Lage waren, ihren Kindern fünfzig Stunden in der Woche zu widmen, die Erziehungsrechte der staatlichen Institution zu übertragen hatten. Solche, die dreißig Stunden aufbrachten, durften ihre Kinder an den Wochenenden zu sich nehmen. Die anderen nur in der Urlaubszeit.
    Sein Bruder und er entwickelten sich zum wölfischen Paar, zum Schrecken der Siedlung am Rande der Metropole. Der Integrität der Großmutter, ihrem Ansehen, verdankten sie stete Straffreiheit bei ihren kindlichen Vergehen, und weder Lehrer noch Nachbarn genossen aus diesem Grund ihren Respekt. Zwischen der Achtung für die Großeltern und der infantilen Verachtung für den Rest befanden sich die Eltern und wurden auf diese Weise zum überflüssigsten Bestandteil ihrer Kindheit.
    Als Wesentlichstes begriff Dincklee noch heute die Eigenschaft der Großeltern, wichtig nur zu nehmen, was des Wortes wert war. Sie waren großzügige Menschen. Sie befanden sich fern von jener Kleinlichkeit, die die Masse derer zeichnet, die in Maßlosigkeit mehr wollen, als zu halten ihnen gegeben ist, die nie den ausgefahrenen Weg verlassen, auf dem sie in blinder Eigensucht einhertappen, beiseite stoßend, wer nicht rechtzeitig an den Rand springt. Schon damals diffamierten jene den verhaßten Eigenwillen der Knaben bei den Großeltern als Untugend. Veranstaltete der umprogrammierte Spielrobot eine Hetzjagd auf das Edelhausgetier, sorgten sie sich scheinheilig, was aus den Kindern denn noch werden solle. Demagogisch dies Geschrei, damals wie heute. Sich selbst als Maßstab verteidigend, hatte er gelernt, sich zur Wehr zu setzen. Keiner, dem er das Recht einräumte, über sein Dasein zu verfügen.
    Der Wachwechsel erlöste ihn aus der Grübelei. Er übergab Schließcodes und Unterlagen. Während sie die Utensilien in Empfang nahm, gähnte Irelin verhalten und lächelte dann. Sie kannten sich nur flüchtig, und es hätte durchaus der Üblichkeit entsprochen, wenn sie sich für ihre Müdigkeit bei

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