Störgröße M
sie noch immer nur fragmentarisch begriff. Mit der Rauschhaftigkeit ihrer Liebe betäubte er sich, und mit jedem Höhepunkt fragte er sich erneut, ob ihr Einsatz, nötig gewesen sei, um ihn zu finden, und ob ihre Zukunft nicht genauso fragwürdig sei wie ihre Vergangenheit.
Die Existenz der siebenundzwanzig erschien ihm nach wie vor möglich, aber seine Abneigung gegen ihre Identifikation mit ihnen wuchs. Er warf ihnen vor, siebenundzwanzig Menschen auf der Erde zu betrügen und deren Anspruch auf Freude oder Leid. Er nannte sie Flüchtlinge, wogegen sich Irelin verwahrte. »Dein Vergleich ist ungerecht!« Sie diskutierten eine Weile, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Eines Nachts erwachte er und fand das Bett neben sich leer. Er erhob sich und eilte barfuß und kaum bekleidet hinaus.
Vom Eingang der Kommandozentrale her konnte er sie beobachten. Sie kauerte in einem Sessel. Während ihre geflüsterten Äußerungen für ihn unverständlich blieben, konnte er die Antworten gut verstehen. Er reimte sich schnell zusammen, daß ihr Gesprächspartner Irelin II sein mußte. Mit beschwörenden Vorstellungen drang sie in Irelin, ihr leeres, begrenztes Dasein aufzugeben.
»Noch sind wir eins«, sagte Irelin II, »noch lebst du in mir weiter. Doch bald bin ich jemand anderes. Du kannst nicht ermessen, wie schmerzlich deine Existenz für mich ist. Du vegetierst animalisch. Du hast eine Ahnung davon. Während des kurzen Augenblicks, da du bei uns weiltest, hat dich ein Schimmer von dem erreicht, was du entbehrst. Du bist wach geworden. Nun öffne die Augen. Welchen Sinn hat dein erbärmliches menschliches Leben noch, da es mich gibt?« Reglos, das Gesicht hinter den Knien verborgen, hockte Irelin.
Dincklee war der Anblick unerträglich. Er wandte sich ab. In der Hast kam er ins Straucheln.
Er nahm sich nicht die Zeit, bei Choyteler anzuklopfen.
An der Ruhe des Alten zerbrach seine Erregung. Mit drei Sätzen schilderte er die Situation.
Choyteler rührte sich nicht. Er sagte ohne Vorwurf: »Sie hätten bei ihr bleiben sollen. Wenn ihr jemand diesen Irrsinn ausreden kann, dann sind Sie es. Ich habe geahnt, daß es so kommt.«
»Sie haben es zugelassen.«
»Sie haben Vorwürfe schnell bei der Hand. Ich kann Ihnen nicht helfen. Gehen Sie und versuchen Sie zu retten, was zu retten ist.«
Nach Stunden endlich schlief sie. Er löste seine Arme von ihr und bettete sie sorgsam. Ihr Gesicht war noch tränennaß und auf den Wangen klebten ihr Harrsträhnen. Er nahm den Strahler, der auf dem Tisch lag und wog ihn in der Hand. Auf dem Kolben waren ihr Name und Dienstgrad eingraviert.
Choyteler war noch auf. Er überreichte ihm die Waffe und sagte: »Verwahren Sie sie vor ihr.«
»Schläft sie?«
»Ja.«
Der Arzt nahm den Strahler, legte ihn in ein Fach und verschloß es.
»Wie wird es weitergehen?« fragte Dincklee.
Choyteler zuckte wie vor etwas Unabwendbarem die Achseln. »Der Einfluß von Irelin II wird nachlassen. Sie müssen Geduld haben. Gewähren Sie ihr Zeit und füllen Sie sie aus mit Ihrer Liebe. Eines Tages wird Irelin II so weit von allem Irdischen entfernt sein, daß ihr Interesse an der Existenz ihres Originals erlahmen wird.«
»Warum hat sie das alles getan?«
Choyteler lächelte. »Sie rang um Anerkennung, um Liebe, Sie fühlte sich einsam wie Sie. Viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
Von der Zentrale aus stellte Dincklee die Verbindung zur Basis her. Jeperzon machte einen Eindruck, als wäre ihm die Störung mitten in der Nacht keineswegs lästig. Er forderte Dincklee nicht auf zu reden.
Ohne etwas zu verschweigen, berichtete er, was sich zugetragen hatte. Jeperzon sah ihn aufmerksam an, und hin und wieder nickte er. Als Dincklee geendet hatte, sagte er: »Ich freue mich, daß Sie den Mut gefunden haben, mir das zu erzählen. Ich werde Ihnen kein Disziplinarverfahren anhängen, weil Sie die Dinge nicht weisungsgemäß gesteuert haben. Ich werde darauf verzichten. Ich tue es mit gutem Gewissen. Sie müssen mir dafür nicht dankbar sein. Natürlich vereinfacht es vieles, daß wir einen Kronzeugen für Choytelers Unschuld haben.«
»Sie denken wie immer sehr sachlich, Zivilmajor«, sagte Dincklee.
»Das gewöhnt man sich so an«, sagte Jeperzon. »Eines Tages werden Sie vielleicht selber diese Erfahrung machen, diese und andere. Angefangen haben Sie.«
»Es sieht ganz so aus«, entgegnete Dincklee spöttisch.
Jeperzon lachte. »Ich denke, es war eine gute Entscheidung, Irelin mitzunehmen.«
Dincklee stutzte. »Ich traue
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