Störgröße M
gerade weil er allein war. Uns ängstigt die Vorstellung von ihrer Grenzenlosigkeit. Die Vergangenheit erleben, die Zukunft, unerreichbare Orte besuchen, fabelgleiche Wesen lieben, frei sein. Frei von der Qual des eingeschlossenen Ichs, frei von der Enge der drei Dimensionen. Frei von der Möglichkeit zu leiden? Frei von der Möglichkeit zu handeln!
Choyteler erhob sich. Mit leisem Schritt, um den anscheinend Schlafenden nicht aufzuwecken, begab er sich nach nebenan.
Erst ein späteres Geräusch ließ Dincklee hochschrecken. Jemand betrat den Raum.
Als sehe sie die Welt zum ersten Mal, irrte Irelins Blick zu ihm hin. Mit der Unberechenbarkeit schwärmender Insekten bewegten sich ihre Augen. Ein ursprünglicher Zweifel verhinderte jede Wahrnehmung. Sie schien durch alles hindurchzusehen; Leere entstellte ihr Gesicht. Doch dann erblickte sie ihn, und mit einem Lächeln kehrte sie in die Gegenwart zurück. Hinter ihr erschien Choyteler. Er breitete die Arme aus, als müsse er sie vor dem Fall bewahren.
Irelin sah über die Schulter auf Choyteler und sagte: »Da sitzt er nun, und ich liebe ihn nicht weniger als vorher.« Sie schüttelte erstaunt den Kopf, kam auf ihn zu, nahm sein Gesicht in die Hände und küßte seine Augen, seinen Mund, sein Haar. Währenddessen kniete sie hin, und er mußte sich zu ihr hinunterbeugen. Seine Arme hielten sie, und die Furcht, das Unbekannte zu spüren, gab ihnen Kraft.
»Ich bin nun zweifach vorhanden«, sagte sie.
»Nur diesen einen Moment«, murmelte er. »Nicht länger.«
»Ich kenne siebenundzwanzig Menschen so genau, als wären sie ich selbst. Nur der achtundzwanzigste verbirgt sich vor mir. Ich möchte ihn finden.«
»Ist die Übertragung nicht geglückt?«
»O doch«, bemerkte der Alte. »Es ist alles in Ordnung. Meine Kameraden haben sie in ihre Mitte aufgenommen.«
»Von ihr weiß ich nur eins«, sagte Irelin. »Sie ist glücklich. Sollte ich behaupten, ich sei es? Sie hat eine Welt für sich gefunden. Sie hat keine Grenzen, weder stoffliche noch sinnliche. Sie braucht dich nicht, aber ich. Es ist, als wäre der Teil von mir, der dich nicht braucht, nicht mehr in mir. Ich bin froh, daß sie dort geblieben ist. Bin ich befreit, spüre ich Sehnsucht?« Sie strich ihm verträumt über den Kopf. »Ich möchte es dir beschreiben. Ich kann es nicht. Darin liegt die schöne Unvollkommenheit unserer Liebe.«
»Bleib bei mir«, sagte er. »Wie wenig wiegt alles andere.«
»Natürlich bleibe ich«, erwiderte sie. »Es gibt ja keine andere Irelin.«
Voller Triumph nickte ihm Choyteler aus dem Hintergrund beruhigend zu. Dincklee versuchte wegzublicken. Aber seine Silhouette spiegelte sich in den Wänden, im Schatten wie im Licht. Stand ihm gegenüber in der Tür ein Heiliger oder ein Monstrum? Vielleicht ein ganz normaler Mensch!
Kraftlos und langsam wie seit fünfundvierzig Jahren folgte der »Messenger« seiner Bahn. Die aufgefüllten Energievorräte waren für das Einschwenken in die Parkbahn bestimmt, und bis dahin blieb ihnen noch eine Woche Zeit.
Jeperzon meldete sich und forderte einen endgültigen Bericht. Dincklee hielt ihn hin. Auf Irelins Drängen hatte er ihm ihren Eingriff verschwiegen, und ohne Kenntnis dieses Umstands mußten Jeperzon ihre vage gehaltenen Schlußfolgerungen unzureichend erscheinen. Aber ganz offensichtlich war er bemüht, keinen Druck auszuüben. Zum ersten Mal verspürte Dincklee so etwas wie ein Schuldgefühl. Doch es gelang ihm nicht, Irelin umzustimmen. Auch ihm gegenüber gab sie keinen Grund für ihre Haltung an. Er bemühte sich, Jeperzon ihren maßgeblichen Anteil an den Ermittlungen umschreibend hervorzuheben. Der Zivilmajor mußte etwas ahnen. Aber er benutzte seine Mutmaßungen nicht zu Befehlen.
»Warum«, fragte Dincklee Irelin, »sträubst du dich dagegen? Hast du Angst vor der eigenen Courage?«
Sie stritt die Verdächtigung genauso oberflächlich allgemein ab, wie er sie ausgesprochen hatte. Nach solchen Wortwechseln fiel ihm ihr unstillbares verlangen nach Liebe und Zärtlichkeit auf, und trotzdem erschien es ihm, als laufe sie, nach ihm rufend, vor ihm her. Nie wieder erwähnte sie die andere. Er fragte nicht, obwohl ihn ihr Schweigen beunruhigte. Er fand keinen Ansatz für eine Frage, denn er fürchtete, die Antwort würde mit einem Schlage sein Leben in zwei Stücke teilen. Er wollte die Grenze zwischen vorher und nachher, zwischen dem alten und dem neuen Mut früher ziehen. Aber mit seinem Zögern wurde ihm deutlich und bewußt, daß er
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