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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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die Finger.
Die Gesichter, die Stimmen, die Luft, alles schien den Stempel
der unheilverkündenden Schwingung zu tragen.
»Wieviel Zeit…«
»Etwa drei Stunden«, erwiderte George. Seine Stimme klang
unerwartet zart.
»Aber warum…?«
Es stellte sich heraus, daß niemand in der Lage war, darüber
Auskunft zu geben. Fest stand offenbar nur eins, die
Weckautomatik hatte sich zu spät eingeschaltet. Das gesamte
Steuersystem des Raumschiffs mußte sich während einer
längeren Phase in heillosem Durcheinander befunden haben.
Zur Zeit arbeiteten einige der Einheiten wieder
zufriedenstellend. Aber es war unmöglich, über die fragliche
Zeitspanne aus den Speichern eine Information zu gewinnen. »Unvorstellbar«, sagte Drunen matt. »Bei zehnfacher
Redundanz ist das unvorstellbar.«
George zuckte mit den Schultern. »Es muß etwas während
des lichtschnellen Fluges eingetreten sein, was unsere
Vorstellung und alle Ableitungen übersteigt, ein physikalischer Effekt, was weiß ich. Ohne Hilfe des Gedächtnisspeichers
werden wir es kaum rekonstruieren können.«
»Wir sollten jetzt an die Zukunft denken«, bemerkte
Vanderboldt. In pedantischer Ordnung, als würde er sie noch
einmal brauchen, legte er die benutzten Instrumente in den
Sterilisator. Es drückte sich darin eine Sinnlosigkeit aus, die
Drunen aufputschte.
»Was für eine Zukunft denn? Sorgst du dich unrein
Grabmal?« Er war sich der Ungerechtigkeit seiner Worte
bewußt, aber ihre lakonische Distanz half ihm, der Angst Herr
zu werden. Und noch ein fester Punkt hielt sich im Chaos
seiner Gedanken. »Wo ist Monte?«
George grinste. »Er wacht über unsere Zukunft. Die
Servoautomaten beladen die Rettungsgleiter.«
Wahrscheinlich wäre Drunen unter anderen Umständen der
bittere Ton nicht entgangen. Überdies, die Flugzeuge waren
permanent einsatzbereit, sechzig oder siebzig Personen
aufzunehmen. Ausrüstung, Werkzeug, Lebensmittel befanden
sich stets an Bord. Das Raumschiff führte zwei dieser
unverwüstlichen Apparate mit sich. Beladen, womit? »Was man so braucht«, antwortete Vanderboldt.
Die Gelassenheit des Arztes setzte Aggressivität in Drunen
frei. Gereizt beobachtete er dessen Bewegungen. Unbeweglich,
bis auf die Arme, sortierte er in ritueller Gemessenheit
Instrumente, ein geschickt konstruierter Götze. Das
Eingeständnis seines Neides kostete ihn Kraft und Sicherheit.
Erbittert preßte er die Hände gegen die Schenkel.
»Ruhig«, sagte Vanderboldt, »ganz ruhig. Es hat keinen Sinn
sich aufzuregen. Gar keinen.«
»Verstehst du«, sagte George, »wir haben keinen Einfluß auf
den Ablauf der Dinge. Eine ekelhaft lange Zeit, drei Stunden.« Während er Drunen die Nährpaste reichte, bemerkte der Arzt:
»Du solltest es nicht falsch auffassen, wenn ich meine, es ist wahrscheinlich barbarisch, dich geweckt zu haben.« In den Worten drückte sich eine idiotische Sanftheit, unendliche Güte
aus.
Drunen verstand den Sinn nicht. Noch immer beherrschte
Verwirrung seine Gedanken. Hysterisch schrie er: »Seid ihr
denn alle verrückt geworden?« Seine Stimme kippte über. Die
Luftröhre schien ihm zuzuwachsen. Er atmete keuchend. In den
würzigen Geschmack der Paste mischte sich Bitteres. Am
ganzen Körper bebend, mußte er sich setzen.
Die Arme über der Brust verschränkt, lehnte George in einem
der leichten Sessel aus Stahlrohr und Tuch und starrte blicklos
vor sich hin. Woran dachte er? Vanderboldt sortierte wieder
Instrumente. Wie um ihn zu quälen, wiederholte er den
sinnlosen Satz: »Wir können nichts tun als warten, verstehst
du. Jetzt warten wir darauf, uns zu retten. Später werden wir, in
einen fremden Himmel starrend, auf unseren Tod warten. Das
ist paradox, nicht wahr?«
»Hör auf.«
Ohne von seiner Beschäftigung aufzuschauen, sagte der Arzt:
»Ich bin schon still.«
Der Satz löste endlich die in Drunen angestaute Aggressivität.
Er holte aus, fegte mit einer Bewegung seines Arms den
Sterilisator vom Tisch. Unerträglich hallte das scheppernde
Klirren.
Zufrieden blinzelnd warf der Arzt die letzte Schere auf den
Trümmerhaufen. Drunen sah seinen Rücken gebeugt unter dem
Kittel; den Nacken, den haarlosen Schädel von bronzener Haut
übergossen. Nichts daran regte sich, als wäre er schon
gestorben.
Bis auf das ferne Dröhnen der Antriebe drang kein anderes
Geräusch zu ihnen. Lauschend drehte Drunen den Kopf. »Was
ist mit den anderen? Du solltest dich um sie kümmern.« Vanderboldt zuckte die Schultern, antwortete nicht. »Hör mal«, sagte George, ohne

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