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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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nur, liegen Sie ruhig, nicht verkrampft. Vielleicht tauchen längst vergessene Erinnerungen auf. Das ist normal. Sollten Sie sie nicht wiedererkennen, so handelt es sich um Begebenheiten aus allerersten Lebensabschnitten. Vielleicht erleben Sie sogar Ihre eigene Geburt. Sollten Sie Müdigkeit verspüren, so geben Sie dem nach. In einer viertel Stunde ist alles erledigt.« Er berührte einen Sensor und legte einen Schalter um. Von der Instrumentenwand her ertönte ein Summen. Das war das einzige äußerliche Zeichen. Choyteler schob ihn hinaus. Hinter sich schloß er sorgsam die Tür. »Sie wird gleich eingeschlafen sein. Wir stören nur.«
Er ließ sich in einem der Kommandositze nieder. »Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann geben Sie mir eine Büchse Bier. Ich habe das lange entbehrt, und es schmeckt nicht einmal übel.«
Dincklee eilte hinaus. Die mitgebrachten Vorräte hatten sie im Gang gestapelt. Wortlos nahm Choyteler die Büchse entgegen und trank in langen, genußvollen Zügen. Selten hatte Dincklee einen Menschen beobachtet, der eine banale Handlung mit solcher Inbrunst verrichtete. Der Alte setzte die geleerte Büchse ab. Sein Blick glitt über den Leittisch zwischen ihnen und kletterte zögernd an Dincklee hoch. »Sagen Sie, Dincklee, was halten Sie wirklich von mir?«
Dincklee lachte und erwiderte ohne Scheu: »Sie sind mir ein bißchen unheimlich. Aber ich bewundere Sie.«
»Sie bewundern mich?« Choytelers Erstaunen klang merkwürdig resigniert. »Ahnen Sie überhaupt, wen Sie vor sich haben? Ich will ehrlich sein, schon damals grauste mir vor dem, was ich vorhatte. Es gab eine Notwendigkeit, ja, jedoch keinerlei Garantie. Die Konsequenzen in jeder Richtung ließen sich nicht ermessen. Mit ihrer Einwilligung gab ich ihnen nach der geglückten Übertragung Gift. Als Fachmann kontrollierte ich das Sterben ihrer Körper. Sie existieren ohne ihn. Sie sind nicht schlechthin Wesen ohne Körper. Vor diesem Mehr empfinde ich ein tiefes Entsetzen. Kennen Sie den Zauberlehrling?«
»Sie sind Wissenschaftler. Sie folgten einer Einsicht. Sie setzten sich konsequent über alle Ängste und Denkgewohnheiten hinweg. Sie wollten ja helfen.«
»Konsequent? Manchmal glaubte ich, an meinen Zweifeln zu ersticken.«
»Sie haben sie überwunden«, sagte Dincklee. »Das ist Grund genug, Sie zu verehren.«
Choyteler lachte auf. »Sie sind entweder ein Enthusiast oder ein Narr. Haben Sie im Leben nie so viel gewagt, daß Sie gelernt hätten, weniger unbeschwert über diese Dinge zu befinden? Ihre Freundin ist mutiger als Sie.«
Der Vorwurf beschämte Dincklee. Er schwieg.
»Habe ich Sie verletzt?«
»Verletzt? Nein. So kann man es wohl nicht nennen.«
Der Alte musterte ihn eindringlich, und als bereite es ihm ein heimliches Vergnügen, begann er zu erzählen.
»Unsere Situation von damals ist Ihnen in groben Zügen bekannt. Die Chance, daß uns ein Raumschiff fände, bevor wir verhungert waren, war gering. Es hat uns niemand gefunden! Ich mußte handeln.« Choyteler bat um ein Bier, und als Dincklee die Zentrale wieder betrat, saß er, wie von schwerem Schlaf übermannt, in sich zusammengesunken da. Doch sogleich ergriff er die Büchse, trank und fuhr fort: »Nachdem ich ihre siebenundzwanzigfache Kopie angefertigt hatte, überzeugten sie sich vom Vorhandensein ihres doppelten Ichs.« Choyteler kicherte. »Sie hätten erleben müssen, mit welcher Begierde sie sich mit sich selber unterhielten. Sie stellten sich selber die albernsten Fragen. Aber schließlich beruhigten sie sich. Es kam der Augenblick, da sie von mir Abschied nahmen. Für mich war es ein Abschied für immer. Hände, Münder, Körper! Wen sollte ich fortan berühren? Manche weinten.« Choyteler sah auf seine ineinander verkrampften Hände. Seine Schultern bebten einen flüchtigen Moment. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Ich habe sie meinem wissenschaftlichen Ehrgeiz geopfert, und die Umstände gaben mir die Erlaubnis.« Wie im Selbstgespräch flüsterte er: »Was für ein Wähnsinnsunternehmen.«
Es widerstrebte Dincklee, sich mit einem Vorwurf zu revanchieren. Ihm war klar, nicht der Tat klagte sich Choyteler an, sondern des Ergebnisses. Er muß es verantworten, sagte er sich, beides, und vielleicht entgleiten ihm die Geister wirklich, die er rief. Darf man den Tod versuchen, um ihn zu besiegen? Was für eine dumme Phrase, dachte er, geboren aus der Gewohnheit. Wie eng leben wir wirklich? Davon hat sich Choyteler befreit, ganz allein oder

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